Essay

Die Postkoloniale Theorie und ihre Folgen

Warum die akademisch-aktivistische Dämonisierung Israels so gefährlich ist

von Ingo Elbe  15.04.2024 10:54 Uhr

Eine Ikone der postmodernen Linken: Judith Butler Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Warum die akademisch-aktivistische Dämonisierung Israels so gefährlich ist

von Ingo Elbe  15.04.2024 10:54 Uhr

Seit dem Pogrom vom 7. Oktober überschwemmt eine Welle von Hass gegen Israel westliche Universitäten. Wir haben es dabei mit einer erheblichen Radikalisierung linker Akteure zu tun, deren Boden aber bereits lange vorher bereitet war.

Einen wesentlichen Beitrag dazu liefert die in vielen Bereichen des akademischen Betriebs inzwischen tonangebende postkoloniale Theorie. Diese beansprucht, auch nach dem formalen Ende der Kolonialherrschaft koloniale Spuren in Wissensformen und sozialen Strukturen nachzuweisen. Das Motiv der »Kolonialität« – ein Sammelbegriff für die Diagnose einer den sogenannten globalen Süden seit über 500 Jahren mit rassistischer Ausgrenzung und Genozid überziehenden westlichen Weltordnung – wird dabei zum Hauptkriterium von Geschichtsbetrachtung und Sozialkritik erklärt.

Adepten dieser neuen großen Erzählung glauben, mit dem Prinzip der »Kolonialität« auch einen Schlüssel zum Verständnis von Judentum, Zionismus, Antisemitismus und Schoa gefunden zu haben. Dadurch entstehen systematische theoretische Verzerrungen: die begriffliche Auflösung des Antisemitismus in Rassismus, die Relativierung des Holocaust zum Kolonialverbrechen, die Dämonisierung Israels und die Ausblendung des islamischen und arabischen Antisemitismus.

Die israelische Historikerin Anita Shapira stellt zutreffend fest: »Der Jude als Opfer wird zum Ideal.«

Die Dämonisierung Israels ist in dieser Strömung seit langem Standard und kann verschiedene Formen annehmen. Häufig findet man eine direkte Übertragung antisemitischer Motive auf Israel. So spricht eine Ikone der postmodernen Linken, Judith Butler, vom israelischen »Mord an Kindern«. An die Legende des zu ewiger Wanderschaft verdammten Juden erinnert ihr Vorwurf, Juden, die einen Nationalstaat verteidigen, würden ihr Wesen verraten, das in einem Diaspora-Dasein der Auslieferung an den Anderen bestehe. Die israelische Historikerin Anita Shapira stellt treffend fest: »Der Jude als Opfer wird zum Ideal.«

Hier docken die notorischen Gleichsetzungen von Nationalsozialismus und Israel an. Dieses führe angeblich die Idee eines in den Holocaust mündenden Nationalismus fort, weshalb prominente Postcolonials zu grotesken Analogien greifen: Die Situation im Gazastreifen oder im Westjordanland erinnere an NS-Konzentrationslager oder an das Warschauer Ghetto. Für Ramón Grosfoguel ist der Zionismus ein »Hitlerismus«, mit dem Juden »Jagd auf Palästinenser« machten. Im Kampf gegen Israel stehe gar »die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel«. Der »palästinensische Sieg«, so sein erlösungsantizionistischer Gedanke, werde »die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsebene führen«.

Israel gilt als Inkarnation aller westlichen Kolonialverbrechen, welche das »indigene Volk« der Palästinenser »eliminiere«

Israel gilt als Inkarnation aller westlichen Kolonialverbrechen, welche das »indigene Volk« der Palästinenser »eliminiere«. Der angeblich weiße jüdische Siedler darf, folgt man der US-Aktivistin Linda Sarsour, sogar entmenschlicht werden. So warnte sie mit Blick auf die Zionisten: »Wenn du … versuchst, den Unterdrücker zu vermenschlichen, dann ist das ein Problem«. Kein Wunder also, dass der Londoner Professor Gilbert Achcar, im Juni 2022 noch Gast auf der vom Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) und dem Einstein-Forum veranstalteten Tagung »Hijacking Memory«, das Massaker der Hamas vom 7. Oktober als »quasi verzweifelten Akt der Tapferkeit« feiert.

Die elegantere Strategie ist allerdings die humanistisch drapierte Dämonisierung Israels durch De-Realisierung antisemitischer Gewalt, wie man sie in den beliebten »Kontextualisierungen« des Oktoberpogroms findet. So heißt es in einem unter anderem von führenden Vertretern der Postcolonial Studies wie A. Dirk Moses und Michael Rothberg, aber auch von der Leiterin des ZfA, Stefanie Schüler-Springorum, unterzeichneten offenen Brief: »Fünfundsiebzig Jahre Vertreibung, sechsundfünfzig Jahre Besatzung und sechzehn Jahre Blockade des Gazastreifens haben zu einer immer schlimmer werdenden Spirale der Gewalt geführt, die nur durch eine politische Lösung gestoppt werden kann.«

Hier werden arabische Pogrome gegen den Jischuw in den 1920er und 30er-Jahren, die palästinensische Verweigerungshaltung gegenüber einem jüdischen Staat, die Angriffskriege arabischer Armeen gegen Israel und dessen Friedensangebote der Jahre 2000 oder 2008 völlig ausgeblendet – es gibt in solchen manichäischen Formulierungen führender Akademiker offenbar nur ein Opfer und einen Täter.

Dieser Form der Dämonisierung liegt auch ein zentraler methodisch-politischer Defekt der postkolonialen Studien zugrunde. Folgt man Edward Saids Idee des Orientalismus, einem Schlüsselkonzept dieses Denkens, dann erfindet der Westen das Bild eines herabgewürdigten orientalischen Anderen, um sich selbst zu definieren, sich von negativen Selbstanteilen imaginär zu befreien und einen imperialen Herrschaftsanspruch zu begründen.

Dabei wird in vielen postkolonialen Beiträgen ein doppelter Standard gepflegt: Man betrachtet nur das Sprechen des »Westens« über den »globalen Süden«. Ohne sich die Frage nach der Sachhaltigkeit dieser Rede zu stellen, wird diese stets als illegitime koloniale Machtstrategie verstanden.

Der »globale Süden« kommt oft nur als Opfer oder stumme Projektionsfläche vor

Der »globale Süden« kommt oft nur als Opfer oder stumme Projektionsfläche vor und wird damit konzeptionell entmündigt. Der Islamwissenschaftler Bernard Lewis sprach ironisch von der »white man’s burden of guilt«, einem negativen Überlegenheitsdenken, das unterstelle, ausschließlich weiße Europäer könnten für die Übel der Welt verantwortlich sein.

Die »Anderen«, also zum Beispiel islamistische Regime und Bewegungen wie der Iran oder die Hamas, tauchen als Akteure meist gar nicht auf. Wenn deren Gewaltakte und Herrschaftsverhältnisse ausnahmsweise doch einmal Thema sind, werden sie nicht ernst genommen, antisemitische Aussagen als bloße Rhetorik verzweifelter Opfer verharmlost und ihre Taten als bloße Reaktionen auf Aktionen des Westens bzw. Israels gedeutet.

Doch auch als komplexer geltende Varianten postkolonialen Denkens haben systematische Fallstricke. Kolonialität und liberale Demokratie werden hier als zwei Seiten einer Medaille betrachtet. Was nach der »kolonialen Moderne« folgen soll, bleibt hingegen unklar. Häufig wird nach dem Muster eines auf links gewendeten Ethnopluralismus eine »multipolare Weltordnung« als Alternative gepriesen und damit autoritären Mächten wie Russland, dem Iran oder China Legitimität verschafft. Solche »alternativen Modernen« sollen durch »Hybridität« erreicht werden.

Das bedeutet, dass (angeblich oder wirklich) Kolonisierte Konzepte wie Menschenrechte oder Demokratie aus ihrer spezifisch ethnokulturellen Perspektive heraus subversiv umdeuten sollen: kulturspezifische Menschenrechte oder »islamische Demokratie« werden damit erstrebenswerte Ziele im Kampf gegen die westliche Hegemonie. Das führt zu ideologischen Bündnissen postkolonialer Linker mit Dschihadisten – man lese dazu die unmissverständlichen Äußerungen linker Protagonisten wie Judith Butler, Susan Buck-Morss, Walter Mignolo oder Ramón Grosfoguel.

Erkenntnisverhinderung durch Simulation von Überkomplexität

Große Teile der akademischen Linken üben sich allerdings in Kritikabwehr: Man praktiziert Erkenntnisverhinderung durch Simulation von Überkomplexität, indem man verkündet, die postkoloniale Theorie existiere nicht. Oder man behauptet, es gebe einen Abgrund zwischen überaus differenzierten postkolonialen Studien und ihrer simplifizierenden Rezeption in aktivistischen Kreisen. Doch bei allen internen Differenzen postkolonialer Ansätze tauchen fast alle der oben genannten Argumentationsmuster derart häufig und zudem bei prominenten Vertretern dieser Strömung auf, dass man von einem vorherrschenden Denkmuster sprechen muss.

Und schließlich agieren diese Akademiker häufig selbst als Aktivisten und verstehen sich auch als solche. Nicht nur in der inzwischen kaum noch überschaubaren Menge an offenen Briefen gegen Israel wird dabei manichäisch und bis zur Schmerzgrenze simplifizierend argumentiert. Von solchem akademischen Aktivismus haben Juden im 21. Jahrhundert nichts Gutes zu erwarten.

Der Autor ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er nimmt als Referent an der Tagung der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden »Die Macht der Projektion– antiisraelische Obsessionen als Weltwahrnehmung« vom 14. bis 16. April in Berlin teil.

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