Unverhoffte Zeitsprünge lauern überall. Man muss bisweilen schon zwei Mal hinschauen, um sicherzugehen, sich nicht verguckt zu haben. Aber es stimmt: Die Bilder, deren Sprache so verdächtig an den Film noir erinnern, an Hollywood und an seine dramatisch inszenierten Antihelden, wie sie in den 40er-, 50er-Jahren Erfolge auf der Leinwand und beim Publikum feierten – sie sind tatsächlich schon viel früher entstanden, 1920 zum Beispiel, durch die deutsche Fotografin Yva.
Ja, es ist wirklich nicht übertrieben, Yvas Schaffen als Avantgarde zu bezeichnen. Von der Eleganz der Hollywood-Diven bis zur eigenwilligen Formsprache etlicher Filmemacher und Fotokünstlerinnen, die viel später auf sie folgten, hat die Berliner Fotografin (1900–1942) viele Entwicklungen vorweggenommen.
zeitgenossin Zu entdecken gibt es ihr Werk jetzt in den Rüsselsheimer Opelvillen, die Yva und ihre Zeitgenossin Frieda Riess (1890–1957) präsentieren. Beide Frauen einte die Freude am Experiment, das Ausreizen der fotografischen Möglichkeiten mit eigenen Mitteln.
Dass die Werke beider Fotografinnen so modern erscheinen, im wörtlichen Sinne unerhört und unbesehen, liegt in den Biografien begründet: Riess und Yva gehören zur sogenannten verlorenen Generation, die gerade in einigen Ausstellungshäusern wiederentdeckt wird. Frieda Gertrud Riess, Tochter einer jüdisch-orthodoxen Kaufmannsfamilie, starb 1957 verarmt im Pariser Exil. Yva, geboren als Else Ernestine Neuländer-Simon, wurde 1942 in Sobibor ermordet.
In der Ausstellung liest man von erfolglosen Warnungen. Ihr damaliger Schüler Helmut Neustädter berichtet in seiner Autobiografie, wie er die von ihm verehrte Yva erfolglos nach Amerika zu bringen versuchte – sein späterer Künstlername: Helmut Newton. Der Fotograf war sicher, Yvas »einmaliger Blick« werde ihr dort beachtlichen Erfolg bescheren. Doch Yvas Ehemann sprach kein Englisch und wollte in Berlin bleiben, die Fotografin winkte ab.
vergessen Das weitestgehende Vergessen von Yva und Riess lässt in besonderem Maße erschrecken. Nur wenige Schritte durch die Ausstellung genügen schließlich, um zu erkennen, wie hervorragend vernetzt beide gewesen sein mussten. Schauspieler-Ensembles und Tanzrevuen ließen sich von ihnen in Szene setzen, für Werbung, Porträts, Modekollektionen, frühe Stummfilmproduktionen und Zeitschriften wurden sie angefragt.
Yvas Fotografie war frech: Sie porträtierte Berühmtheiten auch aus der Rückenansicht.
Beide Frauen reüssierten früh mit ihren Studios und setzten dabei jeweils eigene Schwerpunkte. Von Frieda Riess fotografiert zu werden, galt als eine Ehre. »Die Riess«, wie sie sich selbst bald nur noch nannte, gehörte zu den gefragtesten Gesellschaftsfotografen ihrer Zeit. Entsprechend lang ist die Liste ihrer Kundinnen und Kunden: ein damals noch junger Marc Chagall, die Schriftsteller Gottfried Benn und Gerhart Hauptmann, der Architekt Hans Poelzig, die Schauspielerin Tilla Durieux zählten ebenso dazu wie der faschistische Führer Italiens, Benito Mussolini. Sein Porträt wurde in zahlreichen Zeitschriften abgedruckt.
Ein einzelnes Bild konnte eine enorm intensive Wirkung entfalten: So machte Frieda Riess’ ausdrucksstarke Fotografie mit ihrem Fokus auf Körperpose, Kostüm und Make-up unter anderem die Schauspielerin Margo Lion berühmt.
INSZENIERUNG Selbst Persönlichkeiten, die der Porträtfotografie und ihrer Behauptung auf Abbildung der Wirklichkeit noch kritisch gegenüberstanden, ließen sich von Frieda Riess’ feinem inszenatorischen Gespür überzeugen. Viele waren begeistert: »Nicht nur meine charakteristische Körperhaltung ist haarscharf erfasst, sondern mit ihr das Belangvollste meiner Gefühlssituation. Wer dieses Bild sieht, wird mich erkennen«, kommentierte der Schriftsteller Max Herrmann-Neiße 1922, »und so viel Erkenntnis sind fast alle Porträtphotos der Riess«.
Beide Fotografinnen begriffen ihr Metier als bildendes, nicht bloß abbildendes Medium. Sie spielten mit Licht und Schatten, Unschärfe, Drapierung und Pose. Frieda Riess, zehn Jahre älter als Yva, schuf Fotografien wie gemalt: Oft inszenierte sie ihre Porträtierten vor weichem, beinahe schwimmendem Hintergrund; fließende Stoffe, entsprechende Kleidung sowie fein dosiertes Licht kennzeichnen ihre Fotografie. Hinzu kommen expressionistisch geprägte Bilder sowie Akte, mit denen Riess gezielt die Grenzen des damals gesetzlich Erlaubten auslotete.
Yvas Fotografie war noch frecher: Berühmtheiten porträtierte sie auch einmal aus der Rückenansicht, gesichtslos. Sie experimentierte gezielt mit der neuen Technik, nutzte Spiegelungen und Mehrfachbelichtung auch, um die eigene Person etwa in ihrem berühmten »Futuristischen Selbstbildnis« zersplittert in Szene zu setzen. Ihr Rekord waren siebenfache Belichtungen, die sie auf einer Fotoplatte unterbrachte.
Frieda Riess und Yva. Fotografien 1919–1937 ist die rückwirkende Würdigung zweier Fotografinnen und ihres eindrücklichen, ihrer Zeit oft vorauseilenden Werks. Und sie erzählt eine noch größere Geschichte, die sich auch durch die Kurzbiografien der zahlreichen Porträtierten langsam entfaltet: Wie Herrmann-Neiße gingen etliche ins Exil, wurden verfolgt. Riess’ und Yvas Fotografien zeugen so, jenseits dokumentarischen Anspruchs, nachhallend von einer verschwundenen Ära und rufen ihre Protagonistinnen und Protagonisten, die ihrerseits zu einem guten Teil in Vergessenheit geraten sind, ins Bewusstsein.
Die Ausstellung »Frieda Riess und Yva. Fotografien 1919-1937« ist in den Opelvillen, Ludwig-Dörfler-Allee 9, Rüsselsheim, bis 3. Juni zu sehen.