Fotografie

Porträts mit Erkenntnis

Zersplittert: Yvas »Futuristisches Selbstbildnis«, eine Mehrfachbelichtung aus dem Jahr 1926 Foto: Das Verborgene Museum

Fotografie

Porträts mit Erkenntnis

Rüsselsheim würdigt die avantgardistischen Werke von Frieda Riess und Yva

von Katharina Cichosch  04.04.2023 19:24 Uhr

Unverhoffte Zeitsprünge lauern überall. Man muss bisweilen schon zwei Mal hinschauen, um sicherzugehen, sich nicht verguckt zu haben. Aber es stimmt: Die Bilder, deren Sprache so verdächtig an den Film noir erinnern, an Hollywood und an seine dramatisch inszenierten Antihelden, wie sie in den 40er-, 50er-Jahren Erfolge auf der Leinwand und beim Publikum feierten – sie sind tatsächlich schon viel früher entstanden, 1920 zum Beispiel, durch die deutsche Fotografin Yva.

Ja, es ist wirklich nicht übertrieben, Yvas Schaffen als Avantgarde zu bezeichnen. Von der Eleganz der Hollywood-Diven bis zur eigenwilligen Formsprache etlicher Filmemacher und Fotokünstlerinnen, die viel später auf sie folgten, hat die Berliner Fotografin (1900–1942) viele Entwicklungen vorweggenommen.

zeitgenossin Zu entdecken gibt es ihr Werk jetzt in den Rüsselsheimer Opelvillen, die Yva und ihre Zeitgenossin Frieda Riess (1890–1957) präsentieren. Beide Frauen einte die Freude am Experiment, das Ausreizen der fotografischen Möglichkeiten mit eigenen Mitteln.

Dass die Werke beider Fotografinnen so modern erscheinen, im wörtlichen Sinne unerhört und unbesehen, liegt in den Biografien begründet: Riess und Yva gehören zur sogenannten verlorenen Generation, die gerade in einigen Ausstellungshäusern wiederentdeckt wird. Frieda Gertrud Riess, Tochter einer jüdisch-orthodoxen Kaufmannsfamilie, starb 1957 verarmt im Pariser Exil. Yva, geboren als Else Ernestine Neuländer-Simon, wurde 1942 in Sobibor ermordet.

In der Ausstellung liest man von erfolglosen Warnungen. Ihr damaliger Schüler Helmut Neustädter berichtet in seiner Autobiografie, wie er die von ihm verehrte Yva erfolglos nach Amerika zu bringen versuchte – sein späterer Künstlername: Helmut Newton. Der Fotograf war sicher, Yvas »einmaliger Blick« werde ihr dort beachtlichen Erfolg bescheren. Doch Yvas Ehemann sprach kein Englisch und wollte in Berlin bleiben, die Fotografin winkte ab.

vergessen Das weitestgehende Vergessen von Yva und Riess lässt in besonderem Maße erschrecken. Nur wenige Schritte durch die Ausstellung genügen schließlich, um zu erkennen, wie hervorragend vernetzt beide gewesen sein mussten. Schauspieler-Ensembles und Tanzrevuen ließen sich von ihnen in Szene setzen, für Werbung, Porträts, Modekollektionen, frühe Stummfilmproduktionen und Zeitschriften wurden sie angefragt.

Yvas Fotografie war frech: Sie porträtierte Berühmtheiten auch aus der Rückenansicht.

Beide Frauen reüssierten früh mit ihren Studios und setzten dabei jeweils eigene Schwerpunkte. Von Frieda Riess fotografiert zu werden, galt als eine Ehre. »Die Riess«, wie sie sich selbst bald nur noch nannte, gehörte zu den gefragtesten Gesellschaftsfotografen ihrer Zeit. Entsprechend lang ist die Liste ihrer Kundinnen und Kunden: ein damals noch junger Marc Chagall, die Schriftsteller Gottfried Benn und Gerhart Hauptmann, der Architekt Hans Poelzig, die Schauspielerin Tilla Durieux zählten ebenso dazu wie der faschistische Führer Italiens, Benito Mussolini. Sein Porträt wurde in zahlreichen Zeitschriften abgedruckt.

Ein einzelnes Bild konnte eine enorm intensive Wirkung entfalten: So machte Frieda Riess’ ausdrucksstarke Fotografie mit ihrem Fokus auf Körperpose, Kostüm und Make-up unter anderem die Schauspielerin Margo Lion berühmt.

INSZENIERUNG Selbst Persönlichkeiten, die der Porträtfotografie und ihrer Behauptung auf Abbildung der Wirklichkeit noch kritisch gegenüberstanden, ließen sich von Frieda Riess’ feinem inszenatorischen Gespür überzeugen. Viele waren begeistert: »Nicht nur meine charakteristische Körperhaltung ist haarscharf erfasst, sondern mit ihr das Belangvollste meiner Gefühlssituation. Wer dieses Bild sieht, wird mich erkennen«, kommentierte der Schriftsteller Max Herrmann-Neiße 1922, »und so viel Erkenntnis sind fast alle Porträtphotos der Riess«.

Beide Fotografinnen begriffen ihr Metier als bildendes, nicht bloß abbildendes Medium. Sie spielten mit Licht und Schatten, Unschärfe, Drapierung und Pose. Frieda Riess, zehn Jahre älter als Yva, schuf Fotografien wie gemalt: Oft inszenierte sie ihre Porträtierten vor weichem, beinahe schwimmendem Hintergrund; fließende Stoffe, entsprechende Kleidung sowie fein dosiertes Licht kennzeichnen ihre Fotografie. Hinzu kommen expressionistisch geprägte Bilder sowie Akte, mit denen Riess gezielt die Grenzen des damals gesetzlich Erlaubten auslotete.

Yvas Fotografie war noch frecher: Berühmtheiten porträtierte sie auch einmal aus der Rückenansicht, gesichtslos. Sie experimentierte gezielt mit der neuen Technik, nutzte Spiegelungen und Mehrfachbelichtung auch, um die eigene Person etwa in ihrem berühmten »Futuristischen Selbstbildnis« zersplittert in Szene zu setzen. Ihr Rekord waren siebenfache Belichtungen, die sie auf einer Fotoplatte unterbrachte.

Frieda Riess und Yva. Fotografien 1919–1937 ist die rückwirkende Würdigung zweier Fotografinnen und ihres eindrücklichen, ihrer Zeit oft vorauseilenden Werks. Und sie erzählt eine noch größere Geschichte, die sich auch durch die Kurzbiografien der zahlreichen Porträtierten langsam entfaltet: Wie Herrmann-Neiße gingen etliche ins Exil, wurden verfolgt. Riess’ und Yvas Fotografien zeugen so, jenseits dokumentarischen Anspruchs, nachhallend von einer verschwundenen Ära und rufen ihre Protagonistinnen und Protagonisten, die ihrerseits zu einem guten Teil in Vergessenheit geraten sind, ins Bewusstsein.

Die Ausstellung »Frieda Riess und Yva. Fotografien 1919-1937« ist in den Opelvillen, Ludwig-Dörfler-Allee 9, Rüsselsheim, bis 3. Juni zu sehen.

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«- Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  25.04.2025

100 Jahre "Der Prozess"

Was Kafkas »Der Prozess« mit KI und Behörden-Wirrwarr gemeinsam hat

Seine Liebesworte gehen auf TikTok viral. Unheimlich-groteske Szenen beschrieb er wie kein Zweiter. In Zeiten von KI und überbordender Bürokratie wirkt Franz Kafkas Werk aktueller denn je - eben kafkaesk

von Paula Konersmann  25.04.2025

Reykjavik

Island fordert Ausschluss Israels vom ESC

Das Land schließt sich damit der Forderung Sloweniens und Spaniens an. Ein tatsächlicher Ausschluss Israels gilt jedoch als unwahrscheinlich

 25.04.2025

Popkultur

Israelfeindliche Band Kneecap von zwei Festivals ausgeladen

Bei Auftritten verbreiten die irischen Rapper Parolen wie »Fuck Israel«. Nun zogen die Festivals Hurricane und Southside Konsequenzen

von Imanuel Marcus  25.04.2025

Berlin/Brandenburg

Filmreihe zu Antisemitismus beim Jüdischen Filmfestival

Das Festival läuft vom 6. bis 11. Mai

 25.04.2025

Fernsehen

Ungeschminkte Innenansichten in den NS-Alltag

Lange lag der Fokus der NS-Aufarbeitung auf den Intensivtätern in Staat und Militär. Doch auch viele einfache Menschen folgten der Nazi-Ideologie teils begeistert, wie eine vierteilige ARD-Dokureihe eindrucksvoll zeigt

von Manfred Riepe  24.04.2025