Nein, die Konitzer Mordaffäre ist kein klassischer Krimi, auch wenn das Buch in einem auf dieses Genre spezialisierten Verlag erschienen ist. Der Autor Herbert Beckmann hat sich die Geschichte auch nicht ausgedacht, sondern das, was in dem Roman, der von dem historischen Mord an einem 18-Jährigen handelt, beschrieben wird, sind nicht weniger als die Mechanismen, wie in einer Kleinstadt ein Pogrom entstehen kann.
Im Jahr 1900 wurden hier Leichenteile gefunden. Ermordet wurde der Gymnasiast Ernst Winter – und schon kurz nach dem Leichenfund wurde das Gerücht in die Welt gesetzt, das Ganze erinnere an einen Schächtschnitt, so etwas könnten nur Juden tun. Beinah alle Christen im Ort glaubten an einen Ritualmord – eine Verabredung sämtlicher Juden, um für die Pessach-Mazzen an Christenblut zu gelangen. Sogar noch absurdere Gerüchte machten die Runde.
pöbel Ermittler aus Berlin, die nachweisen konnten, dass Winter erwürgt und nicht abgestochen wurde, dass etliche Konitzer Bürger Mordmotive besaßen, die von Eifersucht über Päderastie bis ins Rotlichtmilieu reichten, wurden vom Pöbel schlicht hinweggefegt. Nicht einmal der liberale Bürgermeister traute sich mehr auf die Straße.
Der Mob, organisiert von einem aus Honoratioren bestehenden Komitee (und vom Staatsanwalt mit Falschinformationen befeuert), zerstörte die Synagoge und trieb die Juden aus der Stadt. Der Mörder wurde nicht gefunden, aber der Sohn des jüdischen Schlachters wurde wegen einer läppischen Falschaussage zu vier Jahren Haft verurteilt. Der Berliner Schriftsteller Herbert Beckmann, von dem schon etliche historische Romane vorliegen, hat die Konitzer Mordaffäre minutiös recherchiert und daraus einen Roman gemacht, der die handelnden Figuren sehr realistisch zeichnet.
Jedes der vier Kapitel hat einen anderen Ich-Erzähler, ein erzählerischer Trick, mit dem Beckmann auch die subjektive Seite der handelnden Personen einführen kann: Zunächst der Bürgermeister, dann ein Polizist aus Berlin, der bald abgezogen wird, dann ein erfahrener Berliner Kriminalbeamter und zuletzt ein liberaler Journalist.
menetekel In einem guten Sinne lässt Beckmann in seinem Roman das Krimigenre hinter sich. Ihm gelingt es, den Mordfall und das ihm folgende Pogrom als Menetekel zu deuten und zu zeigen, wie – auch in Zeiten scheinbarer Ruhe – jederzeit Vorurteile aktiviert werden können, ja, wie sie tief in einer Gesellschaft schlummern.
Was Herbert Beckmann mit seinem Roman gelungen ist, lässt sich vielleicht am besten so zusammenfassen: Entlang eines vermeintlich kleinen Mordfalls aus dem Jahr 1900 in der Provinz zeigt er, welche Triebkräfte nur wenige Jahrzehnte später die gesamte deutsche Gesellschaft antrieben – vom Pogrom bis zur Schoa.
Herbert Beckmann: »Die Konitzer Mordaffäre«. Roman. Gmeiner, Meßkirch 2015, 241 S., 9,99 €