Der Briefwechsel, den die am 17. Oktober 1973, im Alter von 47 Jahren in Rom verstorbene Schriftstellerin Ingeborg Bachmann mit Marie Luise Kaschnitz (1901–1974), Hilde Domin (1909–2006) und Nelly Sachs (1891–1970) geführt hat, nimmt gerade einmal 100 Seiten des umfangreichen, von Barbara Agnese herausgegebenen Buches Über Grenzen sprechend ein. Jedoch ist dieser Briefwechsel literarhistorisch eindrucksvoll und wertvoll genug, um ihn der literarisch interessierten Öffentlichkeit vorzustellen.
Agnese, eine italienische Bachmann-Expertin, hat mit ihrem ausführlichen Kommentar sowie mit der Zusammenstellung einer Zeittafel, die die Lebenswege und Publikationen der vier Autorinnen chronologisch dokumentiert, den Briefwechsel zu einem kulturellen Brennspiegel der deutschen Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs ausgestaltet, in dem deren bedrängende Themen und Probleme zu einer gesammelten und sprachlich ausdrucksvollen Form gelangen.
Über Grenzen sprechend ist eine Grußformel, die Nelly Sachsʼ ersten Brief an Ingeborg Bachmann vom 2. Januar 1958 abschließt. Sie benennt nicht nur die eigene Problematik der Grenzziehungen in den vergangenen Jahren des Krieges und der Schoa, sondern versucht auch insgesamt, die Grenzen, in denen sich die europäische Nachkriegsordnung manifestiert hat, durch eine poetisch vieldeutige Formulierung zu überwinden.
Die vier Autorinnen sind die repräsentativen Lyrikerinnen der Nachkriegszeit.
Es überrascht nicht, dass die Briefe sich insgesamt durch eine lyrisch geschlossene Form auszeichnen, in der sie wie literarische Perlen der jeweiligen Briefpartnerin übersendet werden. Denn diese vier Autorinnen sind die repräsentativen Lyrikerinnen der Nachkriegszeit. Jede Briefpartnerin Bachmanns hat ihren ganz eigenen Ton. Kaschnitz, die in den 50er-Jahren mit ihrem Mann, dem klassischen Archäologen Guido Kaschnitz, in Rom lebte, lernte Bachmann dort kennen und kam persönlich oft mit ihr zusammen. Deshalb ist ihr gemeinsamer Briefwechsel auch persönlicher, in einem vertrauten Tonfall gehalten.
Domin und Sachs kannten Bachmann hingegen nur von gelegentlichen Zusammentreffen. Allen ist jedoch der Wunsch gemeinsam, poetische Lösungen für die Probleme ihrer Zeit zu finden. Neben der Grenzüberschreitung wird die Frage nach der Heimat ein dringliches Thema. Kaschnitz, die damals zwischen Rom, Frankfurt am Main und dem badischen Bollschweil bei Freiburg, pendelte, bedeutete dieses Familiengut ein »unbeschreiblich schönes Land und eine wirkliche Heimat«.
Dieses kurze, in einfachen Worten gehaltene Bekenntnis zeigt die tiefe Empfindung für das Heimatliche dieses Ortes. Dagegen erkennt die 1954 mit ihrem Mann aus dem Exil in der Dominikanischen Republik nach Deutschland zurückgekehrte Hilde Domin die existenzielle Wurzellosigkeit ihrer Existenz an, da bei ihr »die Wurzeln nur in der Luft hängen und kaum die Zeit haben, sich ein wenig mit der obersten Schicht der Erde zu befreunden«.
Die direkte Erfahrung des Antisemitismus an ihrem von 1961 an neuen Lebensmittelpunkt Heidelberg, wo ihr Mann und sie selbst vor der Nazi-Zeit studiert hatten, hat zu diesen Schwierigkeiten der Verwurzelung beigetragen. Kaschnitz mochte dem Terror, dem Domin, aber auch sämtliche Mitbewohner ihrer ersten Heidelberger Adresse ausgesetzt waren, zunächst keinen Glauben schenken.
Dieser Teil ist ebenso erschütternd zu lesen, wie die antisemitische Wahnwelt, in der Nelly Sachs in den letzten Jahrzehnten ihres schwedischen Exils leben musste. Der feine, äußerst zerbrechliche Tonfall von Nelly Sachsʼ Briefen ist ein trauriges Zeugnis ihres bis zuletzt gefährdeten Lebens, dem sie jedoch ein bedeutendes lyrisches Werk hat abringen können.
Hilde Domin und Nelly Sachs kannten Ingeborg Bachmann nur von gelegentlichen Zusammentreffen.
Domin hingegen engagierte sich für ein über Gedichte und ihre verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten vermitteltes, groß angelegtes, in Schulen und Bildungseinrichtungen veranstaltetes und in Anthologien publiziertes pädagogisches Aufklärungswerk, in dem die politischen Verwerfungen der vergangenen Jahrzehnte durch deutsche und europäische Gedichte zur Sprache kommen sollten. In der scheuen, häufig an sich selbst zweifelnden Bachmann fand sie jedoch keine einsatzfreudige Mitstreiterin. Es überrascht nicht, dass in einer von Männern dominierten Gesellschaft und Kulturlandschaft Frauen eklatante Schwierigkeiten hatten, sich Gehör zu verschaffen. »Dies ist ein unerhört kompliziertes Land für eine Frau, die etwas leisten will. Fast unmöglich.«
Das schreibt Domin am 12. Juli 1965 an Bachmann, der wiederum von einem Freund und Schriftstellerkollegen eine »hypermännliche Intelligenz« attestiert wurde. In längst vergangenen Jahrzehnten wurde diese Formulierung noch umstandslos verstanden. Heute erscheint sie in ihrer Lächerlichkeit wie eine Contradictio in adjecto.
»Über Grenzen sprechend. Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz, Hilde Domin, Nelly Sachs. Briefe«. Herausgegeben von Barbara Agnese. Piper und Suhrkamp, Berlin 2023, 364 S., 40 €