Stellt es Dichterinnen und Dichter eher vor Schwierigkeiten, Werke aus einer Sprache zu übersetzen, die sie nicht beherrschen? Oder trägt diese selige Unbefangenheit eher zur Befreiung bei?
Für Letzteres spricht klar die Reihe »Poesie der Nachbarn«, die das Künstlerhaus in Edenkoben unter seinem Leiter Hans Thill in mehreren Stufen zündet: Am Beginn steht ein Workshop im pfälzischen Weinort, in dessen Rahmen anhand einer groben Linearübersetzung, vor allem aber mit Hilfe der persönlichen Begegnung fremdsprachige Werke ins Deutsche übersetzt werden.
Was dabei herauskommt, wird anschließend mit Lesungen dokumentiert – bis dann am Ende ein Buch erscheint. So auch im Fall der Gedichte aus Israel, die der Verlag Wunderhorn in dem Band Das Gute in den Dingen herausbringt.
ZOOM Die mit Vorwort, ausführlichen Informationen und natürlich den zweisprachig abgedruckten Gedichten aufwändig und detailreich gestaltete Publikation war dabei das geringste Problem. Was den Organisatoren wie den Schreibenden so große Steine in den Weg legte, dass sie den Garten Edenkoben nicht gemeinsam betreten konnten, war die Pandemie: Während sich die deutschen Autorinnen und Autoren im Künstlerhaus versammelten, wurden die Israelis per Zoom zugeschaltet, um den Nicht-Hebräisch-Sprechern ihre Schreibintentionen zu vermitteln. Auch die abschließende Lesung fand allein in digitaler Form statt.
Die persönliche Begegnung wurde nun auf das Drängen Hans Thills in Edenkoben nachgeholt, im dortigen Künstlerhaus sowie im Staatstheater Mainz kam es im Oktober 2022, gut ein Jahr nach dem virtuellen Experiment, auch zu Lesungen mit Menschen aus Fleisch und Blut. Und vor allem zu ganz und gar analogen Begegnungen und Gespräch auch mit dem Publikum, kulinarisch garniert mit Pilzragout und Knödeln und selbstverständlich einem Riesling im Goldenen Pfälzer Oktober.
NACHDICHTUNG Der Titel des Bands entstammt einem Text von Hedva Harechavi, der 1942 im Kibbuz Degania Beth geborenen Grande Dame der israelischen Lyrik: »Vom Guten der Dinge, die nicht wirklich richtig sind«. Eindrucksvoll machten die von Harechavi eröffneten Lesungen, macht aber vor allem auch das Buch deutlich, dass Übersetzen im Sinne Oskar Pastior zwar ein »falsches Wort« ist, noch dazu für einen Vorgang, den es gar nicht gibt. Und doch tritt er in der literarischen Wirklichkeit ein, wenn die Übersetzung als Nachdichtung verstanden wird, als ebenso sprach- wie selbstbewusste Annäherung an ein fremdes Werk.
Wie und wohin sich diese Freiheit entfalten kann, wird wunderbar konkret verständlich, wenn gleich mehrere Übersetzungen eines einzigen Gedichts nebeneinander gelegt werden. Von Maren Kames über Anja Utler zu Yevgeniy Breyger, von Steffen Popp zu Mirko Bonné durchläuft ein und dieselbe Zeile diverse Transformationen, wird aus einem einzigen hebräischen Wort gleich ein halber deutscher Satz, findet sich das »Haus meiner Kindheit« von Adi Wolfson poetisch erblüht als »Haus in Oleander-Höhen« wieder. Einmal nutzt Mara-Daria Cojocaru gar die Rolle eines Schachbretts im Gedicht, um das komplette Poem auf einem solchen Muster zu verteilen. So erweitert sich dieser Gedichtband in die Dimension der visuellen Poesie.
GENERATIONEN Und natürlich bildet er Standpunkte der zeitgenössischen israelischen Lyrik ab. Das Buch versammelt unterschiedlichen Generationen, von Shimon Adaf, dem 1972 geborenen langjährigen Mitglied einer Rockband aus Tel Aviv, bis eben hin zu Hedva Harechavi, in deren Gedichten Erinnerungen an die Progromnacht aufgehoben sind, die im süddeutschen Gailingen als der Heimat der Mutter eine 300 Jahre alte jüdische Gemeinde auslöschte.
Die arabisch-israelische Dichterin Ayat Abu Shmeiss beschäftigt sich mit den ganz eigenen Übersetzungsproblemen ihrer Existenz und ihrer zwei Sprachen, und Ayana Erdal berichtet vom Alltag einer alleinerziehenden Mutter in Jerusalem. Überhaupt die Schauplätze der Gedichte: Sie alle entwerfen eine poetische Landkarte zwischen den Zentren Tel Aviv und Jerusalem und Orten an der Peripherie wie Sderot. Diese Orte sind Edenkoben ein gutes Stück näher gekommen.
»Das Gute in den Dingen. Gedichte aus Israel«. Herausgegeben von Jan Kühne und Hans Thill. Wunderhorn, Heidelberg 2022, 184 S., 25 €