Meine Mutter mag Deutschland nicht, und sie mag es nicht, wenn ich hinreise. Sie ist 1941 geboren und erinnert sich noch, wie in Zürich Fliegeralarm gegeben wurde, als die Royal Air Force über dem südlichen Deutschland Angriffe flog. Sie erinnert sich auch an die Anfeindungen ihrer Mitschüler.
Saujude, Saujude, riefen die Kinder, und der Lehrer fand das lustig. Man kann ihr nicht verübeln, dass das für sie alles zusammengehört.
Wolkenbruch Ich hingegen mochte Deutschland immer sehr. In den sieben Jahren seit Erscheinen meines ersten Wolkenbruch-Romans habe ich hier über 120 Lesungen absolviert. Die Menschen, denen ich dabei begegnet bin, habe ich überall als offen, herzlich und aufgeschlossen erlebt. Das mag mit dem literarischen Umfeld zu tun haben, es mag mit meiner eigenen Art zu tun haben, es mag aber auch damit zu tun haben, dass das Deutschland von heute nicht das Deutschland aus der Kindheit meiner Mutter ist.
Jedenfalls fühlte ich mich jederzeit sicher. Ich habe mir, anders als meine Mutter, die grundsätzlich stets um meine Gesundheit fürchtet, bei Deutschlandreisen aber erst recht, dabei nie Gedanken darüber gemacht, ob jemand auf dumme Ideen kommen könnte, weil sich da ein Jude vor Deutschen hinstellt und eine jüdische Geschichte erzählt.
Aber das war eben vorher.
Ich hatte keine Lust, meinem Publikum mit Politik die Laune zu verderben.
Dann geschah der Anschlag in Halle. Ich war mit meinem neuen Wolkenbruch gerade auf Lesetour. Darin geht es um Fake News, Hass im Netz und Antisemitismus. Und um Terror gegen Muslime und Juden, ironischerweise.
Fellheim Am Abend des 9. Oktober trat ich in der ehemaligen Synagoge Fellheim auf. Der Veranstalter begrüßte mich und fragte bedrückt: »Was machen wir mit Halle?« Ich antwortete: »Nichts. Was Sie oder ich jetzt sagen würden, ist ohnehin falsch.« Ich hatte keine Lust, meinem Publikum die Laune zu verderben. Auch wenn die Themen des Buches ernst sind, ist es ein lustiger Text. Er ist der Versuch, der Katastrophe mit Humor entgegenzutreten. Ich halte das auch für richtig, nachdem sie tatsächlich eingetreten ist.
Kurz darauf kam die Polizei. Niemand hatte sie gerufen. Sie kam wegen Halle. Eine Polizistin und ein Polizist saßen während meiner Lesung in ihrem Wagen vor dem Gebäude. Nicht meinetwegen, sondern weil in einer ehemaligen Synagoge eine kulturelle Veranstaltung stattfand. Das war das Ende meines Empfindens von Sicherheit in Deutschland. Es gibt jetzt ein Nachher.
Zwei Tage später gab ich einer Schweizer Zeitung ein Interview und wurde gefragt, ob Ereignisse wie in Halle mich dazu bewögen, mich mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. Ich antwortete, dass ich mich außerordentlich freuen würde, müsste ich mich nur in solchen Momenten mit Antisemitismus auseinandersetzen. Tatsächlich muss ich es ständig. Immer wieder konfrontieren mich Freunde, auch enge, und Bekannte mit antisemitischen Klischees – der Jude kann gut mit Geld umgehen, der Jude ist klug, der Jude ist geizig.
Entrüstung Protestiere ich, bezeichnen mich die Leute entweder als humorlos (»War doch nur ein Witz!«) oder als rechthaberisch und beharren starrsinnig auf der Richtigkeit ihrer Aussagen: Doch, der Jude sei »geldaffin«! Ich kann dann voller Entrüstung darauf hinweisen, wie respektlos es sei, mir sowas ins Gesicht zu sagen, aber noch nie, in 45 Jahren nicht, hat sich je einer entschuldigt. Der Jude ist eben nicht nur geizig, der Jude hat auch kein Recht, sich zu beschweren. Erst recht nicht, wenn er lustige Bücher schreibt. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist meine Arbeit eine offene Einladung, mir erst recht Geldgier zu unterstellen.
Diese Sprüche ärgern mich. Sie verletzen mich. Sie empören mich. Aber sie sind keine Bedrohung gegen mein Leben. Ich kann diese Probleme lösen, indem ich mich von ihren Urhebern löse. Was leider die einzige Maßnahme ist, denn mit Verweisen auf Logik und Anstand erreicht man, wie jeder Jude weiß, nichts.
Jom Kippur Aber wenn ein Neonazi versucht, an Jom Kippur in eine Synagoge einzudringen, um alle zu töten, die sich darin befinden, und wenn meine Lesung am Abend darauf unter Polizeischutz gestellt wird, dann geht es sehr wohl um mein Leben. Um meines und jenes aller anderen Juden, die sich in Deutschland eben doch nicht sicher fühlen dürfen. Ich habe mich geirrt.
Meine Mutter – da macht sie dem Klischee alle Ehre – ist genauestens informiert darüber, wann und wo ihr Sininke auftritt und was er in welchem Interview sagt. Sie streitet vehement ab, den ganzen Tag vor dem Computer zu sitzen und nach diesen Informationen zu suchen, aber ich bin überzeugt, dass es genau so ist. Und ich hoffe sehr, dass sie diesen Text trotzdem nicht findet. Er würde ihr das Herz brechen. Sie sähe all ihre Befürchtungen bestätigt. Und es gäbe nichts, was ich ihr entgegnen könnte.
Der Autor ist Schriftsteller und Kolumnist und lebt in Zürich. Zuletzt erschien sein Roman »Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin« (Zürich 2019).