Ein Doktor Dolittle ist Jaap Hollander garantiert nicht. Aber immerhin Neurochirurg, also ein Mann der Wissenschaft. Und auch er fängt an, mit Tieren zu sprechen, genauer gesagt mit einem Hund, der in Mitzpe Ramon auf ihn zu warten scheint. Denn unweit der Kleinstadt im südlichen Negev, bekannt für den gigantischen Krater, an dessen Rand sie liegt, ist seine Tochter Lea Jahre zuvor zusammen mit ihrem amerikanischen Freund verschwunden. Aus diesem Grund pilgert Hollander, ein niederländischer Jude, dessen Eltern die Schoa überlebt hatten, regelmäßig aus Amsterdam dorthin, stets in der Hoffnung, irgendwie doch noch eine Spur von ihr finden.
»Die Leiche musste zurückkehren, koste es, was es wolle«, betont Hollander mehrfach – eine Haltung, die einem sehr bekannt vorkommt. Schließlich gehört sie zur DNA des israelischen Ethos und besagt, dass niemand, auch kein Gefallener, zurückgelassen wird und man Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um selbst Tote aus den Händen seiner Feinde zu befreien. Deswegen klammert sich Hollander an jeden Hinweis, der ihn zu seiner Tochter führen könnte, selbst wenn dieser von einem Hund kommt.
Aber noch etwas geschieht bei seinem Aufenthalt in Israel. Das Büro des Ministerpräsidenten kontaktiert ihn, braucht seine Hilfe. Noora, die Tochter des saudischen Herrschers, habe eine lebensbedrohende Gefäßerkrankung im Gehirn und nur Hollander, der als Meister seines Fachs gilt, obwohl er bereits längst in Rente ist, könne sie retten.
»Der Weltfrieden, und ich könnte ihn sichern«, sagt der Neurochirurg
Das Ganze ist natürlich hochpolitisch, weil die saudische Prinzessin in Israel operiert werden soll. Kurzum, der Ausgang des medizinischen Eingriffs bestimmt die Zukunft der saudisch-israelischen Beziehungen und damit auch die des gesamten Nahen Ostens. Oder wie es der alternde Neurochirurg süffisant auf den Punkt bringt: »Der Weltfrieden, und ich könnte ihn sichern.«
Das Ganze hat eine zweite Ebene: Hollander, Sohn eines Heizölhändlers, der nur mit Mühen die Familie wirtschaftlich über Wasser halten konnte, soll jetzt die Tochter genau des Herrschers behandeln, der dank des Erdöls über unbegrenzten Reichtum verfügt. Hollander sagt zu, lässt sich auf die risikoreiche Operation ein, weil als Belohnung viele Millionen Dollar warten, mit denen er wiederum die Suche nach Lea forcieren kann. Würde der Eingriff schiefgehen, könnte das aber seinen eigenen Tod bedeuten. »Warum wollten Sie mich haben, und warum haben Sie mich nicht aufgehalten?«, fragt er den saudischen Herrscher nach der Operation. »Sie war dem Untergang geweiht. Ich musste einen Mann finden, der alles verloren hatte«, lautet die Antwort.
Verloren hat Hollander im Laufe der Geschichte aber noch viel mehr als nur seine Tochter, und zwar so ziemlich alle Gewissheiten, die sein Leben bis dahin bestimmten. Da ist zum einen der Glaube an alles Rationale, der durch einen Sturz ins Wanken gerät. Plötzlich entdeckt er in Israel seine eigene Zerbrechlichkeit und vergessen geglaubte Traditionen. Ebenso erschüttert wird sein Bewusstsein, ein bestens assimilierter Jude in Europa zu sein, der halbwegs sorgenfrei in die Zukunft blicken kann.
All das geschieht nicht etwa, weil er mit einem weisen Rabbi gesprochen hat, sondern mit einem dahergelaufenen Hund. Oder auch, weil in Tel Aviv ein Demonstrant gegen den geplanten Umbau des Justizwesens Hollander eine israelische Flagge auf den Kopf schlägt. Leon de Winter hat mit Stadt der Hunde einen fulminanten Roman geschrieben, dessen Handlung auf ein zentrales Ereignis zusteuert, wenige Stunden davor aber abrupt endet. Gemeint ist der 7. Oktober 2023. Mit dem Wissen, was danach geschah, wird die Geschichte davor erzählt, es entsteht ein Prequel. Dabei gelingt de Winter, und das ist große Erzählkunst, der Drahtseilakt, Dramatisches, Tragisches und Politisches mit Ironie zu verknüpfen, die bis zum letzten Moment fesselt.
Leon de Winter: »Stadt der Hunde«, Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer, Diogenes, Zürich 2025, 272 S., 26€