Seit 20 Jahren lebe ich nun schon in Israel. Fast die Hälfte meines gesamten Lebens. Doch Deutschland kriege ich nicht raus aus mir. Ich will es auch nicht, und das, obwohl ich sehr harte Zeiten auf den Straßen Berlins durchgemacht habe.
Eigentlich hatte ich mir vor 20 Jahren versprochen, dass ich nicht zurückschauen werde. Doch es funktioniert nicht. Deutschland steckt tief in mir. Verwurzelt. Wer hätte das gedacht?
Wedding Dabei war ich alles andere als »deutsch«, während ich in Berlin aufwuchs. Nicht nur, dass ich als Kind persischer Juden ein »Schwarzkopf« war und mir deshalb immer klar war, dass ich nicht ganz deutsch sein kann – sondern ich war auch noch ein integraler Teil der muslimischen Parallelgesellschaften des Wedding. Ich sprach wie sie. Ich zog mich an wie sie. Ich benahm mich wie sie.
Ich war sie!
Deutsch war an mir irgendwann einmal kaum mehr etwas. Am allerwenigsten, wenn ich am 1. Mai ganz vorne mit dabei war, wenn wir, geschätzt um die 100 Graffiti-Künstler, die mehr Hooligans als Künstler waren, auf Straßenschlacht und Polizeiwannen-Umkippen aus waren.
Das waren Zeiten! Wer es nicht selbst durchgemacht hat, wird es nicht nachvollziehen können. Zu Recht stand ich mit einem Fuß im Gefängnis.
Die Richter hatten Hoffnung, dass aus mir noch etwas werden könnte.
Als ich im Sommer 1997 vor Gericht stand, entschieden sich die Richter jedoch gegen eine längere Haftstrafe, und das in erster Linie, weil sie Hoffnung hatten, dass aus mir einmal etwas werden könnte. Welcher »Schwarzkopf« meldet sich sonst für einen Dienst in der Bundeswehr, dachten sie sich? Und das, ohne zu ahnen, dass ich nicht nur ein Schwarzkopf war, sondern auch noch ein Jude.
REAKTIONEN Ich wage zu behaupten, dass ich einer der ersten Juden war, die im Herbst 1997, im Nachkriegsdeutschland, (wieder) die deutsche Uniform angezogen haben. Ein Jude in deutscher Uniform, nur zwei Generationen nach der größten Katastrophe, die dem jüdischen Volk widerfahren ist, und das vonseiten der Großeltern nicht weniger meiner neuen Freunde beziehungsweise Kameraden. Es war ein äußerst mulmiges Gefühl. Mein Magen drehte sich. Vielleicht das mulmigste Gefühl, das ich jemals in meinem Leben hatte.
In meiner vor wenigen Tagen neu aufgelegten Autobiografie Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude erzähle ich wie folgt: »Nie zuvor war mir so bewusst geworden, dass ich in Deutschland lebte. Ich kannte ja kaum Deutsche. Plötzlich saß ich im selben Topf mit vielen jungen Männern, die alle Klaus, Friedrich, Manfred, Andreas und Markus hießen, und musste mit meiner neuen Situation fertig werden.
Am ersten Abend saßen alle Frischlinge in einem riesigen Saal, und jeder musste erzählen, wie er heißt, woher er kommt und was er in seiner Vergangenheit gemacht hatte. Als ich an die Reihe kam, sah ich Hunderte von Augen auf mich gerichtet, und ich brauchte nicht lange zu überlegen, was ich mein neues Umfeld von vornherein wissen lassen wollte: ›Ich heiße Sharuz Shalicar, bin 20 Jahre alt, komme aus Berlin und bin Jude!‹ Ich machte eine kurze Pause, um den Leuten Zeit für Reaktionen zu geben, doch es kam nichts, was mich sehr verwunderte.
Ich diente meine zehn Monate in der Bundeswehr ab und wurde nicht ein einziges Mal wegen meiner Religion angesprochen. Ich hörte auch niemanden Witze darüber machen, noch stellte sich jemand gegen mich, weil er nicht mit einem Juden zusammen sein wollte …«
ÜBERRASCHUNGEN Das Leben ist voller Überraschungen. So wie ich davon überrascht wurde, mit welcher Feindseligkeit mir einige Kinder von Migranten begegneten, obwohl ich genauso aussah wie sie, als ich mich im Wedding als Jude »outete«, so überrascht war ich, als sich niemand in deutscher Uniform gegen mich stellte, als ich ihnen verriet, dass ich Jude bin.
Und das sind genau die wahren Begebenheiten, die das Leben ausmachen. Die Teile eines riesigen Puzzles sind, das ein jeder von uns versucht zu vervollständigen, um das Leben zu verstehen.
Hätte es damals schon einen Militärrabbiner gegeben, hätte ich ihn aufgesucht.
Ich habe gelernt, dass es Platz für Juden in der Bundeswehr gibt und dass es der richtige Weg ist, die gruselige Vergangenheit komplett zu besiegen und eine vollständige Versöhnung zu erreichen, wenn auch Juden wieder die deutsche Uniform anziehen können.
Ein richtiger und wichtiger Schritt ist deshalb, dass die Bundeswehr die Position eines Militärrabbiners eingeführt hat. Ich hätte ihn damals sicherlich aufgesucht, und das, obwohl ich nicht religiös erzogen worden bin, denn zu einem christlichen Geistlichen hätte ich noch weniger Bezug gehabt.
Etwas über 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dem jüdische Deutsche und nichtjüdische Deutsche Seite an Seite standen, wirkt es fast ein wenig so, als hätte Deutschland 2021 die Zeit, zumindest in dieser Hinsicht, zurückgedreht, mit dem Ziel, es diesmal besser zu machen.
Der Autor ist deutsch-persisch-israelischer Politologe, Publizist und Mitarbeiter der israelischen Regierung.