Frau Bišický-Ehrlich, nehmen wir einmal gedanklich am Tisch eines nachmittäglichen Grillfestes Platz. Die Sonne scheint, das Essen schmeckt, nur dieser eine Knochen auf dem Teller ist nicht richtig abgegessen. Wie würde Ihre Mutter reagieren?
Sie wäre innerlich sicherlich furchtbar empört, würde sich vielleicht heute nach ihren Erfahrungen zusammenreißen und nicht nach diesem Knochen greifen. Aber die Gefahr besteht noch immer, dass sie dann doch dazu neigt, sich ein bisschen zu vergessen und nach dem Knochen zu greifen.
Diese Geschichte, die wir uns gerade vor Augen geführt haben, ist nur eine aus Ihrem Buch »Der Rabbiner ohne Schuh«. Wann wussten Sie, dass Sie aus diesen vielen Anekdoten ein Buch machen möchten?
Ich weiß gar nicht, ob man so etwas weiß, wenn man nicht vorsätzlich Schriftsteller oder Autor ist. Mein erstes Buch »Sag, dass es dir gut geht« entstand aus dem Bedürfnis heraus, etwas loszuwerden. Und als ich das dann losgeworden war, diese ganze Holocaust-Last, und mich mit dem Schreiben selbst ein Stück weit befreit habe, war Platz für das Lustige, was zuvor schon immer da war, aber dann auch dieses Ventil des Schreibens genutzt hat.
Sie haben in einem Interview einmal gesagt, dass erst die Tränen geweint werden mussten.
Bei uns zu Hause wurde sehr viel gelacht und wenig über Vergangenes oder Probleme gesprochen. Und nachdem ich das erste Buch geschrieben hatte, fühlte es sich so an, als hätten wir damals die Tränen und die Schwere, die immer unterschwellig da waren, einfach weggelacht.
Wie hat sich dann dieses Schreiben im Vergleich zum ersten Buch angefühlt?
Ein riesiger Unterschied. Die Last war weg. Es war wie ein Raum in mir, in dem ich atmen konnte. So, als wären ständig neue Fenster aufgegangen, und Luft wäre hereingekommen. Leichtigkeit hat Platz, hat Raum. Das Schreiben hat mir großen Spaß gemacht, ich musste auch selbst immer wieder schmunzeln. Beim ersten Buch habe ich hauptsächlich geweint.
Gab es eine Geschichte, die ausschlaggebend war, mit dem Schreiben zu »Rabbiner ohne Schuh« anzufangen?
Jede Familie hat ja viele Geschichten, die man sich immer wieder erzählt und die man auch neuen Leuten immer wieder erzählt. Ich bin keine besonders gute Live-Erzählerin. In einer Gruppe von Menschen würde ich die Geschichten wahrscheinlich nicht so lustig hinbekommen wie mein Vater oder mein Bruder. Aber ich fand: Man müsste einmal ausprobieren, ob das nur privat so lustig ist. Allerdings ist in meinem Buch ja nicht alles zum Schmunzeln. Und vielleicht waren es eher die weniger lustigen Begebenheiten, die mich zum Schreiben bewegt haben.
Können Leser durch die Lektüre einen anderen Blick auf jüdische Familien bekommen?
Das würde ich sehr hoffen. Wenn die lustigen Geschichten meiner Familie auch noch etwas bewirken würden, das wäre toll.
Sie schreiben auch über Begegnungen im Alltag oder bei Lesungen und schildern Unwissen und Stereotype, mit denen Sie konfrontiert werden.
Es ist manchmal sehr befremdlich, mit welcher Befangenheit mir Menschen gegenübertreten. Ein Bekannter sagte einmal zu mir, nachdem ich ihm erzählt hatte, wie Leute auf mich reagieren, die das erste Mal einer Jüdin begegnen, die dann tatsächlich irgendwie normal ist: »Barbara, ich verstehe nicht, du bist doch kein Einhorn.« Aber so fühlt sich das manchmal ein bisschen an. Als wäre man anders. Viele wissen nicht: Was darf man sagen? Sage ich etwas Falsches, sage ich lieber gar nichts? Und mit der Befangenheit der Leute kommen dann natürlich komische Dinge und Vorurteile. Weil sie es nicht anders kennen, weil sie es so gelernt haben. Viele meinen beispielsweise, Juden seien alle orthodox. Ganz gängig ist auch die Vorstellung, wir müssten keine Steuern zahlen. Es ist teilweise echt traurig. Aber ich habe durch die Bücher die Möglichkeit, diesen Vorurteilen, dieser Befangenheit zu begegnen und dem etwas entgegenzusetzen, es zu entkräften. Echte Begegnung ist in meinen Augen der einzige Weg, wie man eigene Vorurteile erkennen, sie benennen und dann über Bord werfen kann.
Sie erwähnen im Buch auch andere Befangenheiten, wie die vielen Umschreibungen, wenn es um Juden geht. Wie erleben Sie die Veränderung der Sprache?
Ich empfinde das ein wenig zwiespältig: wesentlich enthemmter, was den Antisemitismus angeht. Es werden Dinge ausgesprochen, die ich als Kind nie gehört habe, wie zum Beispiel das, was meinem Sohn gesagt wurde: »Du scheiß Jude, man hat wohl vergessen, dich zu vergasen.« Auch, dass Jude als Schimpfwort benutzt wird, kannte ich aus meiner Jugend oder Kindheit nicht. Und dann gibt es diese Befangenheit. Es ist kein selbstverständlicher Umgang. Es herrscht einerseits eine krasse verbale Enthemmung, und auf der anderen Seite diese große Vorsicht, nichts Falsches zu sagen.
Wie hat sich Ihr Verhältnis zum Judentum verändert?
Ich bin da so hineingewachsen. Ich komme aus einer tschechischen Emigrantenfamilie, die zu Hause Weihnachten gefeiert hat und mit Judentum nichts am Hut hatte. Peu à peu begann ich, ins Jugendzentrum zu gehen, fand jüdische Freunde, mittlerweile habe ich Kinder, die alle auf der jüdischen Schule waren oder sind, feiere die Feiertage, arbeite sogar für die Gemeinde, bin in der WIZO aktiv, schreibe zwei Bücher über mein Jüdischsein. Das hat irgendwie ganz schön viel Raum eingenommen.
Sie sind in den frühen 90er-Jahren zum Studium nach Prag gegangen. Wie war die Stadt damals so?
Es war eine ganz tolle und lehrreiche Zeit. Das Leben war dort noch ganz anders. Prag ist traumhaft schön, und ich durfte vor dieser Märchenkulisse wohnen. Die Menschen sind damals, so kurz nach der Wende, noch ein Stück weit anders aufgewachsen. Einiges war sehr ungewohnt für mich. Zum Beispiel war ich befremdet, dass die Kommilitonen aufgestanden sind, sobald der Professor oder die Dozentin den Raum betrat. Das kannte ich nicht. Das macht in Deutschland niemand mehr. Anfangs habe ich in Prag auch befürchtet, womöglich herrschenden Vorurteilen zu entsprechen.
Welche waren das?
Die reiche arrogante Deutsche. Deutsche waren nicht sehr beliebt, und Touristen benahmen sich teilweise furchtbar dort. Meine Eltern hatten sich in Prag eine Wohnung gekauft, in der ich als Studentin alleine lebte, und es war mir sehr unangenehm, denn ich wollte nicht so einem vermeintlichen Vorurteilsbild entsprechen. Da hatte ich also mit meiner Befangenheit zu kämpfen.
Wie war die Atmosphäre in der Stadt?
Sie war wild, aber die Stadt war auch voller Touristen. Die Akademie dramatischer Künste, an der ich studierte, liegt mitten auf der Karlsstraße. Immer wenn ich dort entlang musste, bin ich durch diesen Pulk von Touristen durch. Ob Holländer, Deutsche, Engländer mit Bier in der Hand oder schon einiges an Bier intus. Es war ein Gegröle. Aber ich erinnere mich auch an unheimlich viel Kultur. So viel Kultur! Außerdem viele amerikanische Juden, die nach Prag kamen und meinten, sie müssten jetzt alle schreiben und auf Kafkas Spurensuche gehen. Überall gab es neue Cafés, Poetry-Slams – täglich kam Neues.
Können Sie Ihr Prag von damals heute noch sehen?
Nicht so richtig. Heute ist alles sehr ordentlich, sehr fein. Die Häuser sind renoviert und gestrichen. Ich bin anders, mein Blick ist anders. Die Märchenkulisse ist immer noch da, sehr aufgehübscht, ein Traum, viel schöner. Aber was ich damals zu Studienzeiten hatte, war märchenhaft nostalgisch, aber auch wahnsinnig melancholisch. Es war noch so viel Grau dort und auch viel Grimmigkeit. Eigentlich schrammte man in Prag immer so am Rande einer Depression entlang. Wobei ich weit entfernt von Depressionen bin, aber es war so melancholisch, dass es einen auch leicht jeden Tag hätte herunterziehen können. Und so scheint es heute nicht mehr.
Wenn wir Frankfurt gegenschneiden: Gibt es ein Mini-Prag am Main?
Nein, dafür ist Frankfurt zu sehr gelebte Realität.
Wie lebt es sich als Jüdin in der Stadt?
Frankfurt hat für mich viele Vorteile. Es ist multikulti. Wir haben einen offenen Blick, eine tolle Gemeinde, eine tolle Kultur- und Bildungsarbeit, das Gymnasium. Meine Tochter war übrigens eine der Ersten, die nach 83 Jahren am Jüdischen Gymnasium ihr Abitur machen konnte. Was die Möglichkeit des jüdischen Lebens angeht, ist man in Frankfurt gut aufgehoben. Für jemanden, der jüdisch leben will, ist Frankfurt super.
Wir haben zu Beginn über Begegnungen gesprochen. Gab es eine, die Sie nachhaltig beeindruckt hat?
Ich erinnere mich an eine Lesung in Kassel an einer Gesamtschule mit meinem ersten Buch. Die Lehrerin hatte es großartig vorbereitet. Es war eine Schule mit sehr hohem Migrationsanteil und niedrigem Bildungsgrad. Keiner der Jugendlichen ist zuvor einer Jüdin begegnet. Ich war sehr nervös, hatte Angst, was mir begegnen würde: Kommt mir Israelhass entgegen? Stoße ich auf völliges Desinteresse? Ich begann damit zu fragen, was die Kinder bereits über Juden gehört hatten. Es kamen sehr schnell viele Zuschreibungen – die gängigen Vorurteile. Ich las dann aus meinem ersten Buch, und es wurde still. So richtig still unter den Jugendlichen. Nach der Lesung ist die Lehrerin dann raus mit den Schülern, legte ihnen Plakate hin, auf denen sie Gedanken und Fragen aufschreiben sollten. »Juden können ja doch ganz nett sein«, stand da unter anderem. Und ein Mädchen sagte später: »Jetzt habe ich verstanden, warum ich Jude nicht als Schimpfwort benutzen kann.«
Was beeindruckt die Jugendlichen Ihrer Meinung nach?
Die Geschichte meiner Großeltern bestimmt, aber auch, dass ich von meiner eigenen Identitätssuche schreibe. Ich durfte so wohlbehütet in Deutschland aufwachsen, ohne Sorgen, ohne Krieg. Und trotzdem fühlte ich mich nie so richtig zugehörig. In Tschechien war ich die Deutsche, in Deutschland die Jüdin oder die Tschechin. Damit können sich türkische, syrische oder afghanische Jugendliche identifizieren. Auch sie fühlen sich oftmals weder hier noch dort 100-prozentig zu Hause.
Haben Sie für sich heute eine Antwort – wenn es die überhaupt geben muss – gefunden, wer Sie sind?
Ich bin eine Mischung aus alledem. Viel mehr Deutsche als Tschechin, allein schon wegen der Sprache. Aber das Judentum spielt natürlich eine große Rolle, und ich finde es großartig, all das sein zu können.
Mit der Autorin sprach Katrin Richter per Zoom.
Barbara Bišický-Ehrlich: »Der Rabbiner ohne Schuh. Kuriositäten aus meinem fast koscheren Leben«. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2022, 159 S., 16 €