Die Großnichte von Alice Salomon, die heute mit fast 90 Jahren in England lebt, erzählte kürzlich in einem Interview eine Begebenheit, die ihr für die begabte »Tante Ly« – so wurde sie in der Familie genannt – typisch erscheint.
»Meine Mutter sah Alice einmal auf dem Dachgarten ihrer Schule arbeiten, mit ihr zwei Sekretärinnen – eine zu ihrer Linken und eine zu ihrer Rechten. Sie diktierte zeitgleich zwei Bücher, der einen auf Deutsch und der anderen auf Englisch«, so Eva Jacobs im aktuellen Magazin »Alice« der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Berlin. Die Namensgeberin und Gründerin der heutigen Hochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik wurde am 19. April 1872 geboren.
motto Intelligent, gebildet, meinungsstark, tatkräftig und vor allem sozial sehr engagiert – trotz ihres eigenen wohlhabenden Hintergrundes: So war Alice Salomon. Entsprechend stellte sie ihr Leben unter das Motto: »To make the world a better place to live in«.
In ihren Lebenserinnerungen beschreibt Salomon ihre Jugend als Zeit des nutzlosen Daseins.
Geboren wurde Salomon 1872 in Berlin in eine bildungsbürgerliche jüdische Familie. Zusammen mit ihrer älteren Schwester besuchte sie eine christliche Schule in der Nachbarschaft und konvertierte 1914 zum Protestantismus – was ihr aber ihre Ausweisung in der Nazizeit nicht ersparte.
In ihren Lebenserinnerungen beschreibt Salomon ihre Jugend als Zeit des nutzlosen Daseins, die aufgezwungene Untätigkeit als Verurteilung zum stillen Aushalten, zum »Pflanzendasein«. Wie vielen Mädchen aus begüterten Familien war es ihr nicht erlaubt, eine Ausbildung zu absolvieren, obwohl sie gerne Lehrerin geworden wäre.
studium Aus dem langweiligen Dahinvegetieren will sie ausbrechen. Alice Salomon selbst sagte später, dass ihr Leben erst anfing, als sie 21 Jahre alt war. Damals wird sie Mitglied der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, die erste Vorläufer ihrer späteren Schule sind. Bald darauf tritt sie dem Bund Deutscher Frauenverein bei, wird stellvertretende Vorsitzende. Obwohl sie kein Abitur hat, darf sie in Berlin Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie studieren. 1906 promoviert sie.
Durch Salomons Kontakte mit der Armut verändert sich ihr Leben radikal.
Nebenbei sammelt Salomon erste Erfahrungen in praktischer sozialer Arbeit, hilft etwa in einem Mädchenhort, in dem die Kinder von verwitweten oder »eheverlassenen« Frauen untergebracht sind. Hinzu kommen Hausbesuche bei Menschen, die einen Unterstützungsantrag bei einer Wohlfahrtskommission gestellt haben. Durch diese ersten Kontakte mit der Armut verändert sich ihr Leben radikal.
ungerechtigkeit »Ich rebellierte gegen die Ungerechtigkeit und die Ungleichheit der Chancen. Ich wollte zu Hause die Bilder von den Wänden nehmen, die Teppiche vom Fußboden, ich wollte die einfachste Kleidung tragen und kein Geld dafür ausgeben«, schreibt sie über diese Erfahrungen.
Ihre eigene Geisteshaltung im Umgang mit Menschen beschreibt sie 1926 so: »Setzt einen Menschen in die Lage, ganz er selbst zu sein – und sein Erfolg ist so gut wie sicher.« Dazu passt, was ehemalige Schülerinnen der von ihr 1908 gegründeten Sozialen Frauenschule sagen: Die Schule sei »offen« gewesen, habe das eigenständige Denken und das Vertreten der eigenen Meinung gefördert, heißt es im Hochschulmagazin »Alice«.
1925 eröffnete sie die »Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit« und wurde deren Präsidentin. 1932 zu ihrem 60. Geburtstag erhielt sie vom Preußischen Staatsministerium die Silberne Staatsmedaille, die Berliner Universität verlieh ihr die Ehrendoktorwürde. Diese staatliche Wertschätzung fand durch die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 ein abruptes Ende.
1937 wurde die inzwischen 65-Jährige nach Verhören durch die Gestapo zur Emigration nach New York gezwungen.
1937 wurde die inzwischen 65-Jährige, kurz nachdem sie von einer Vortragsreise aus den USA zurückgekehrt war, nach Verhören durch die Gestapo zur Emigration nach New York gezwungen. An ihren beruflichen Erfolg konnte sie dort nicht mehr anknüpfen. Nur wenige Menschen kamen zu ihrer Beerdigung 1948.
In einem Abschiedsbrief kurz vor ihrer Emigration schrieb Salomon an ihre Freundinnen: »Ich gehe in ein Leben des Kampfes um Brot – aber guten Mutes in froher Zuversicht –, völlig ungebrochen in geistiger und sittlicher Kraft, in meinem Wertgefühl, das nicht von außen beeinträchtigt werden kann. Das eine, wozu meine Kraft nicht reicht, ist zum persönlichen Abschiednehmen.«