Die Schoa und damit das abgründigste aller Menschheitsverbrechen zu untersuchen, war die Lebensaufgabe Raul Hilbergs. Der am 2. Juni 1926 in Wien geborene jüdische Politologe und Publizist war einer der ersten Wissenschaftler weltweit, die sich kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Genozid an den Juden Europas beschäftigten.
Der langjährige Professor an der Universität von Vermont in Burlington gilt als der Pionier der historischen Holocaust-Forschung. Sein 1961 in den USA herausgegebenes dreibändiges Werk The Destruction of the European Jews (Die Vernichtung der europäischen Juden) ist als detaillierte Gesamtdarstellung des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Mordprozesses bis heute ein Meilenstein der Holocaust-Forschung.
Aus Anlass von Hilbergs zehntem Todestag in diesem Jahr hatte das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) in der vergangenen Woche Historiker und Interessierte in die Räume der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) nach Berlin-Mitte geladen. Ziel der dreitägigen Tagung war es, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Person Hilbergs und seinen geschichtswissenschaftlichen Thesen zu vertiefen und nach den Impulsen zu fragen, die sein Werk für die Holocaust-Forschung nach wie vor geben kann.
Vorreiter »Hilberg ist der große Vorreiter der Forschung über den Holocaust. Als Erster hat er den Massenmord an den europäischen Juden nicht als das Resultat eines Befehls von Hitler, sondern als einen radikalen Prozess des organisierten Chaos im NS-Staat beschrieben«, sagte FES-Geschäftsführer Roland Schmidt. Wer sich heute mit den Ursachen der Schoa beschäftige, leiste nicht nur historisch wichtige Arbeit, sondern zeige gleichzeitig auch aktives Engagement gegen aktuelle Erscheinungsformen von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, sagte Schmidt.
Die inhaltlichen Panels der Tagung waren personell hochkarätig besetzt. Mit Historikern wie Christopher Browning, Götz Aly und Saul Friedländer waren die Granden der Holocaust-Forschung nach Berlin gekommen. Entsprechend groß war das öffentliche Interesse. Der Veranstaltungssaal war bis auf den letzten Platz gefüllt.
Der Historiker René Schlott vom ZZF wies in seiner Begrüßungsrede darauf hin, dass Hilbergs Leben und Werk trotz seiner herausragenden Bedeutung für die NS-Historiografie bislang nur äußerst sporadisch von der Forschung behandelt wurde. »Wir verdanken es Hilberg, dass die Holocaust-Forschung von einem Randthema zum Schwerpunkt der historischen NS-Forschung geworden ist«, sagte Schlott. Tagungen wie diese sollten dazu beitragen, sich eingehender mit diesem außergewöhnlichen Wissenschaftler und seiner Arbeit zu beschäftigen.
Bürokratie Als 13-Jähriger emigrierte Hilberg nach der Annexion Österreichs 1939 zusammen mit seiner Familie in die USA. Nach dem Studium der Politologie gehörte er zu den ersten Wissenschaftlern überhaupt, die mit den nach Amerika überführten deutschen Akten aus der NS-Zeit arbeiten konnten. Hilberg verwies in seinen Schriften darauf, dass die Schoa nicht das düstere Machwerk einer kleinen verschworenen Verbrecherclique gewesen war, sondern als prozessuales Ereignis durch breite Teile der akademisch gebildeten deutschen Elite getragen wurde. In diesem Sinne war die Schoa für Hilberg auch eine Art Negativbeispiel dafür, was der moderne technokratische Staat mit seiner präzisen Bürokratie in letzter abscheulicher Konsequenz zu vollbringen fähig ist.
»Hilbergs Konzeptualisierung des NS-Regimes mit ihrer sozialwissenschaftlichen Distanz wird auch in Zukunft wegweisend für die Holocaust-Forschung sein«, urteilte der israelische Historiker Dan Michmann in seinem Vortrag. Umso erstaunlicher ist es, dass Hilbergs Opus magnum Die Vernichtung der europäischen Juden erst 1982 und damit rund 20 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in den USA in einer vollständigen deutschen Übersetzung in dem kleinen Verlag Olle und Wolter erschienen ist. Und das, obwohl der Verlag Droemer Knaur bereits 1963 die Rechte an dem Buch erworben hatte.
Angst Der fragwürdigen Publikationsgeschichte von Hilbergs Werk widmete sich der Berliner Historiker Götz Aly in seinem Beitrag. Er hat sich zeitgenössische Gutachten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) angesehen, die Hilbergs Buch negativ bewerteten und von einer Veröffentlichung unter anderem mit dem Argument abrieten, dass der Autor »die Frage, wie sich das Programm zur Endlösung durchsetzte, nur am Rande« behandeln würde.
Aly resümierte: »Die Angst vor den bei Hilberg geschilderten Details über den Holocaust war bei den zeitgenössischen Verlegern einfach zu groß.«