Im Jahr 1783 kommt der Philosoph Salomon Maimon nach Hamburg und gerät bald, wieder einmal, in höchst bedrängende Umstände. Das Geld ist knapp und eine berufliche Perspektive für den Autodidakten nicht in Sicht. In seiner autobiografischen Lebensgeschichte, die 1792 und 1793 in zwei Bänden erstmals erscheint, beschreibt Maimon seinen Versuch, die Situation zu verbessern.
Der frühere Talmudschüler will sich, offenbar ohne innere Skrupel, taufen lassen: »Ich beschloss also, zu dem ersten besten Geistlichen zu gehen und ihm sowohl meinen Entschluss als die Motive dazu auf eine ungeheuchelte, der Wahrheit und Rechtschaffenheit angemessene Art, mitzuteilen.«
Der Versuch scheitert an der Rechtschaffenheit, aber auch an der ausgeprägten Provokationslust Maimons. Er verheimlicht dem Pastor nicht, dass seiner Ansicht nach das Judentum der Vernunft näherkommt als das Christentum. Gleichwohl bedürfe es zur Erlangung der Vervollkommnung der Verbesserung seiner äußeren Umstände. Auf die Frage, ob er denn keinen »innern Trieb zur christlichen Religion« spüre, antwortet Maimon: »Ich müsste lügen.«
Der Pastor schlägt das Gesuch, wenig überraschend, aus: »Sie sind zu sehr Philosoph, um ein Christ werden zu können.« Er müsse nun wohl, kommentiert der verhinderte Konvertit das Verdikt, »ein störrischer Jude« bleiben. Ob sich das alles genau so zugetragen hat, darf bezweifelt werden.
In seiner Studie Der asoziale Aufklärer analysiert Joseph Wälzholz die Lebensgeschichte als einen zentralen Text der Haskala, der jüdischen Aufklärung. Philosophische Exkurse und Episoden aus Maimons Leben, deren oftmals ironischer Duktus die Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichem Sprechen schwierig werden lässt, wechseln sich in dem autobiografischen Schelmenroman ab.
Exkurs Nimmt man die heute verfügbaren Ausgaben der Lebensgeschichte zur Hand, ist Wälzholz’ Ansatz erst einmal überraschend. Die im engeren Sinne philosophischen Exkurse nämlich sind dort in den Anhang ausgelagert oder gleich ganz gestrichen worden, wohl um den Text lesbarer zu machen. In Wälzholz’ Lektüre erscheint dieser mit einem Mal nicht mehr als das Produkt eines angeblich unsortierten Geistes, sondern als bewusst gestalteter »Formenhybrid«.
Wälzholz zeigt, dass Maimons Autobiografie keine bloße Lebenslaufbeschreibung, »sondern die Geschichte eines Lebens ist, das die Widersprüche zwischen Religion und Vernunft stetig aufzulösen versucht und das gerade dadurch zu einem asozialen wird«. Dabei spannt er den Text nicht in eine starre Systematik ein, sondern wirft Schlaglichter auf verschiedene Aspekte der Lebensgeschichte: Maimons Referenz auf Rousseau, sein ambivalentes Verhältnis zu Berlin, das Verhältnis zu Kant, das deutsch-jüdische Gespräch. Diese mosaikartige Herangehensweise entspricht dem Gegenstand der Analyse, in dem soziologische Abhandlung, Bildungsroman, Allegorie, Reiseroman, philosophisches Traktat, Minidrama, schelmenhafter Roman und Migrationsbericht sich jeweils abwechseln.
Die »Asozialität« ist einer der grellsten Aspekte dieses Lebens. Maimon ist stadtbekannt und gefürchtet in Berlin. Sein Alkoholismus, seine Misanthropie und seine unerträgliche Querulanz trägt er offen vor sich her. Er lebt allein mit seinen Vögeln und seinem Hund, dem er seine Bibliothek vermachen will, damit sie keinem Menschen in die Hände fällt. Heute würde Maimon, schreibt Wälzholz, als »integrationsunwillig« gelten.
In der Verweigerung bürgerlicher Sittsamkeit sieht Wälzholz eine wichtige Voraussetzung der genauen Beschreibungen Maimons: Nur ein Asozialer hätte die soziale Seite der sogenannten Judenfrage derart anschaulich schildern können. Wälzholz’ Analyse legt den rationalen Kern von Maimons Verweigerung der »bürgerlichen Verbesserung der Juden« frei, die in den Schriften der meisten christlichen Aufklärer mit der Forderung der Aufgabe jüdischer Religiosität verknüpft gewesen ist.
befreiung Den Kern der Studie allerdings bildet Maimons Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition. Maimon wuchs in Polen auf, der Vater verbot ihm, etwas anderes zu lesen als den Talmud. Seine Loslösung von der religiösen Tradition beschreibt er, gänzlich ohne Ironie, als Befreiung. Trotzdem ist seine Haltung keine polemische. Die Lebensgeschichte enthält eine wichtige, ernst zu nehmende deutschsprachige Darstellung jüdischen religiösen Lebens und – aus der damaligen rabbinischen Perspektive ein weiterer Tabubruch nach dem Taufversuch – eine profunde Darstellung der Kabbala in deutscher Sprache.
Diese Passagen sind als Aufklärung der Aufklärer gedacht. »Wer Religionskritik übt«, fasst Wälzholz Maimons Haltung zusammen, »der muss erst einmal wissen, was Religion ist, und der muss erst einmal sagen, was er unter Religion versteht.« Damit widerspricht Wälzholz der kanonischen Auffassung, Salomon Maimon sei ein unpolitischer Autor gewesen. »Was nach einer recht banalen Prämisse klingt, wird zur plausiblen Einforderung eines Rechts, ja: zu einem Politikum, wenn man sich vergegenwärtigt, wie wenig Ahnung jene Zeitgenossen, die sich bemüßigt fühlten, den Juden Forderungen zu stellen, vom Judentum hatten.«
Der »asoziale Aufklärer« scheint sich in seinem kurzen Leben mit allen überworfen zu haben, und das aus guten Gründen. Zu den Repräsentanten der jüdischen Tradition, zu den Christen sowieso, auch zur Haskala-Bewegung ging Salomon Maimon auf Distanz. Die Reduktion auf einen lebensprallen Schelmenroman wird seiner Autobiografie nicht gerecht, so unterhaltsam der Text auch ist. Joseph Wälzholz’ Studie suggeriert, dass sich zwischen allen Stühlen, so quälend die Lage dort auch sein mag, anders und vielleicht freier denken und schreiben lässt als aus einer Machtposition heraus.
Joseph Wälzholz: »Der asoziale Aufklärer«. Wallstein, Göttingen 2016, 189 S., 29,90 €