Was für ein Leben in der Rückblende! Die Kindheit im Haus eines jüdischen Großkaufmanns im ostungarischen Debrecen, der drohenden Deportation durch die faschistischen Pfeilkreuzler und Eichmanns Beamte mit Mühe und Not entgangen, aufgewachsen im Kommunismus, schikaniert und mit Schreibverbot belegt. In seinem autobiografischen Essaytagebuch mit dem die eigenen verschlungenen Lebenswege charakterisierenden Titel Das Pendel gelingt György Konrád ein erstaunlicher Hiatus zwischen kontemplativer Betrachtung und klarsichtiger historischer Analyse.
mitteleuropa Der inzwischen 79-jährige Schriftsteller hatte nach der Niederschlagung des Volksaufstands von 1956 Ungarn nicht verlassen, anders als viele Landsleute. Der studierte Soziologe blieb in seiner Budapester Vorortwohnung, schrieb und schrieb, entdeckte den Mitteleuropa-Gedanken und entwickelte sich unter der fürsorglichen Belagerung durch die permanent misstrauische Staatsmacht zum Dissidenten. Als strenger Beobachter der gesellschaftlichen Entwicklung hatte György Konrád in diesen Jahren vor der Wende den Kurs der »Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht« genau verfolgt und war zu dem allerdings nicht so überraschenden Ergebnis gelangt, dass sich eine Avantgarde, wenn sie sich verselbständigt, auch zwangsläufig vom Volk entfernt.
Mit solchem Verständnis ausgerüstet, wurde Konrád eine Art Symbolfigur für die ungarische Opposition und eine wichtige Stimme im immer lauter werdenden mitteleuropäischen Kanon. Dann begann er mit dem Romaneschreiben, und wiederum konnte ihn sein Publikum vor allem als einen essayistischen Kopf bewundern, einen Philosophen der Urbanität, der sich in die Belletristik verirrt hatte. Nach der Wende tastete er sich behutsam durch das Gestrüpp der westlich dominierten Medienwelt, erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, wurde zum internationalen PEN-Präsidenten gewählt und stand jahrelang an der Spitze der Berliner Akademie der Künste.
mut Ein Dissident, aber kein Kämpfer – so sieht György Konrád sich heute, an den schönen Dingen des Lebens interessiert, auch ein Familienmensch: »Ich entglitt den Lehrern und Religionen, Politikern, Akademien, meinem jüngsten Kind mache ich keine Vorschläge. Will keinen Einfluss ausüben, verkaufe Kontemplation.« Wir folgen dem Autor bei seiner Beobachtung des »American Way of Life« als Professor für Vergleichende Literaturgeschichte in Colorado Springs. Wir begleiten ihn und seine dritte Frau Jutka bei ihren Spaziergängen durch Berlin und kommen doch immer wieder zurück in die ungarische Wirklichkeit von heute, in der Konrád schon bald nach 1989 die Wiederkehr antisemitischer und faschistischer Rhetorik entdeckt.
György Konrád ist ein höchst unbefangener Beobachter der großen wie kleinen Geschehnisse, ein Pointillist, den nicht billiger Nonkonformismus bewegt, sich zu wichtigen Themen zu äußern. Der Leser spürt, wie mächtig die Schatten der Vergangenheit über diesem Leben liegen. Verfolgung, Gewalt und Repression in den Phasenverschiebungen des vorigen Jahrhunderts haben György Konrád mit einem leisen nachdenklichen Misstrauen ausgestattet.
Er vertritt unkonventionelle Ansichten, was ihm in seinem gesellschaftlichen Engagement intellektuelle Eigenständigkeit sichert, hat den Mut, nicht immer dem zu entsprechen, was sein Publikum von ihm erwartet. So war er gegen das Eingreifen der Nato in Jugoslawien; er befürwortete George W. Bushs Krieg gegen Saddam Hussein. Und auch zur historischen Schuldfrage der Deutschen in der Hitlerzeit vertritt Konrád eine klare Position: »Eine deutsche Generation hat die europäischen Juden zu existenziellen Parias gemacht, wodurch sie selbst zu moralisch Ausgestoßenen geworden ist. Doch wer nichts getan hat, ist auch keinTäter.«
György Konrád: »Das Pendel. Essaytagebuch.« Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp, Berlin 2012, 244 S., 21,90 €