Das Konzept ist so einfach wie spannend: Denker aus verschiedenen Disziplinen kommen zusammen und diskutieren vor Publikum möglichst kontroverse Fragen rund um den Nahen Osten. So in etwa lässt sich das Konzept der »Jerusalemer Gespräche Bonn« zusammenfassen, die seit vergangenem Herbst in der Bundeskunsthalle stattfinden.
Die zweite Ausgabe am vergangenen Sonntag suchte unter dem Titel »Middle East – Melting Pot of Humankind« Antworten auf die Frage, warum der Nahe Osten Schmelztiegel der Menschheit ist. Hier, am Übergang von Eurasien zu Afrika, traf der Neandertaler auf den Homo sapiens, so die These des Abends, der indes nur marginal nachgegangen wurde. Im Mittelpunkt der Diskussion standen vielmehr Fragen nach der Funktion von Religion, von Identität, der Bedeutung von Heimat, Bildung und natürlich von Literatur.
Schoa Publikumsmagnet der von der WDR-Journalistin Judith Schulte-Loh moderierten Runde war der 1954 in Jerusalem geborene Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossman, der regelmäßig für den Literaturnobelpreis im Gespräch ist. Nicht minder mit Spannung erwartet wurden die Ausführungen von Ágnes Heller, die 1929 in Budapest geboren wurde, als junge Frau die Schoa überlebte und als Nachfolgerin von Hannah Arendt am Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York als eine der profiliertesten Denkerinnen der Gegenwart gilt. Mit Grossman und Heller diskutierte der Theologe Dieter Vieweger, Direktor des Deutschen Evangelischen Institutes für Altertumswissenschaft in Jerusalem.
Nach einer kurzen filmischen Collage zum Einstieg, die mit einem Bild des Sisyphos endete, der statt des Felsens die Erdkugel einen Berg hinaufzurollen sucht, griff Grossman diese Metapher auf und meinte, der Fels würde zunehmend schwerer. In einer Realität, die durch Gewalt diktiert werde, sei man weiter denn je von der Idee einer friedlichen Koexistenz von Israelis und Palästinensern entfernt.
Die Menschen einer Region, in der Krieg allgegenwärtig ist, würden, von Angst geprägt, zwar immer religiöser, missbrauchten ihren Glauben aber dazu, sich über den Nachbarn zu erheben, sich also als die existenziell besseren Menschen zu empfinden. Die Politik nutze dies aus, die alltäglichen, konkreten Ängste zu schüren, indem man sie mit den Traumata der Vergangenheit vermische. Nach Grossmans – im Publikum nicht nur auf Zustimmung stoßende – Einschätzung sei hier vor allem die aktuelle israelische Regierung zu nennen. Das mache es unmöglich, an die Vision eines Friedens zu glauben.
Israel Folglich sei es Aufgabe des Schriftstellers, alte Geschichten neu zu erzählen und immer wieder neu zu erfinden, um durch solch eine Schichtung die Geschichte Israels gleichsam neu zu schreiben. Grossman ist davon überzeugt, dass die Existenz Israels an ein Wunder grenzt; denn hier könne man als Jude zu Hause sein, endlich eine Heimstatt finden – aber nur, wenn die Freiheit des Geistes von beiden Seiten akzeptiert werde.
Ágnes Heller, die an diesem Abend leider im Schatten Grossmans stand, attestierte dem Autor daraufhin schmunzelnd, die Qualitäten eines Propheten zu haben. Zuvor hatte sie die Frage gestellt, warum Menschen Religion überhaupt brauchten, da es Moral bereits früher gegeben habe. Mit Bezug auf Grossmans Urteil beschrieb sie den Glauben als eine Macht, die auch missbraucht werde und Terror gebären könne – und forderte von der Menschheit als Gegenmaßnahme »Anständigkeit«.