Skurrile Formen virtuellen Gedenkens sorgten vergangenes Jahr für Aufsehen. Das YouTube-Video »Dancing Auschwitz«, in dem ein Schoaüberlebender mit seinen Enkeln vor den Krematorien zu »I will survive« tanzt, wurde tausende Male angeklickt. Ein polnischer Historiker schuf bei Facebook das virtuelle Profil eines Jungen, der den Holocaust nicht überlebte, und erweckte ihn im Netz zu neuem Leben. Nachdem »Henio« über 5.000 Freunde auf seiner Facebook-Seite hatte, wurde sein Profil gelöscht.
Tabubruch oder Konsequenz unserer Lebensrealität, die sich immer mehr ins Web verlagert? Bergen digitale Formen des Gedenkens neue Chancen für jüngere Menschen, die viel Zeit im Internet verbringen, oder wird nur der Trivialisierung der NS-Verbrechen Vorschub geleistet, wenn man bei Facebook auf der Seite von Auschwitz »gefällt mir« anklicken kann?
chancen »Erinnerungskulturen online« lautete der Titel einer Tagung der Bundeszentrale für politische Bildung, die vergangene Woche Vertreter von Gedenkstätten aus Europa, Israel und den USA versammelte. Nahezu einhellig wurden die Chancen virtueller Gedenkformen hervorgehoben, kritische Stimmen waren kaum zu vernehmen.
In erster Linie war es eine durchaus beeindruckende Präsentation verschiedener Online-Angebote. So bietet etwa das Anne-Frank-Haus in Amsterdam einen virtuellen Rundgang an. Über eine Zeitleiste kann man sich durch »das Hinterhaus online« klicken und Anne Franks Versteck erkunden – auch über Smartphone. Ita Amahorseija, Verantwortliche für den Online-Bereich, will ihr Haus umfassend bewerben: »Wir sollten auf möglichst vielen Plattformen präsent sein, um auch jene zu erreichen, die sich nicht für Anne Frank interessieren.«
»Wenn wir dieses Vakuum nicht füllen, wird es jemand anderes tun«, befand David Klevan im Hinblick auf Facebook. Sein United States Holocaust Memorial Museum kann schon jetzt sehr hohe Nutzerzahlen vorweisen – mehr als 40 Millionen Besucher aus über 100 Ländern im Jahr. Entsprechend euphorisch bewertete er die Möglichkeiten des Internets. Es erlaube, auf Spuren von Schicksalen zu stoßen, und Gedenkstätten mittels Handy-Apps zu erkunden. Dennoch ersetze die Webseite nicht den Besuch der Gedenkstätte, räumt Klevan ein.
Verwunderlich fand die Debatte um Web-Nutzung Na’ama Shik, Leiterin der Internet-Abteilung von Yad Vashem. In Israel werde das Medium längst genutzt. Der YouTube-Kanal der Gedenkstätte verzeichne bereits elf Millionen Nutzer, der Online-Auftritt sei in 20 Sprachen übersetzt, und das seit zehn Jahren über Online-Kurse bereitgestellte Archivmaterial werde von Lehrern sehr gut genutzt. Während die Gedenkstätte selbst etwa zwei Millionen Besucher im Jahr zähle, seien es auf der Webseite über zehn Millionen. Shik sprach sogar von einer moralischen Verpflichtung, die Archive online zu stellen.
vorsicht Zurückhaltender äußerte sich Ruth Oelze von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das seit 2008 bestehende Video-Archiv mit Zeitzeugeninterviews sei Teil der Dauerausstellung. Jetzt alles online zu stellen, hält Oelze für zu früh. Auch Miriam Wenzel vom Jüdischen Museum Berlin ist eher vorsichtig. Aufgrund der vielen antisemitischen Zuschriften habe das Museum erst spät angefangen, sich in sozialen Netzwerken zu tummeln.
Das Web merkt sich zwar viel, aber nicht alles. Immer wieder verschwinden Informationen. Grund genug, danach zu fragen, ob ein Medium ohne Erinnerung überhaupt der richtige Ort fürs Gedenken ist. Die Bedeutung der authentischen Orte werde bestehen bleiben, ist sich Veranstalterin Hanna Huhtasaari sicher. Die Web-Angebote der Gedenkstätten können letztlich nur ein Anreiz sein, um einen Ort wie Auschwitz zu besuchen.
Digitale Web-Angebote gibt es täglich mehr. Vergangene Woche stellte Yad Vashem gemeinsam mit dem israelischen Staatsarchiv über 200 Stunden Filmmaterial des Eichmann-Prozesses auf Youtube. Die Aufnahmen sind nun weltweit zugänglich. Während der Konferenz schrieb das Jüdische Museum die Stelle eines »social media managers« aus. Adäquate Antworten auf Entwicklungen im digitalen Zeitalter?