Es ist das Jahr 5654, nach christlicher Zählung das Jahr 1894. Motele, südwestlich von Minsk gelegen, ist ein winziges, armes Schtetl, in dem die Zeit langsam vergeht und die Erwartung an die Zukunft nur darin besteht, es möge kein Pogrom diese Ortschaft verheeren.
Sie liegt am Fluss Jasselda im russischen Ansiedlungsrayon zwischen Schwarzem Meer und Litauen, jener Region, in der sich damals Juden ansiedeln durften und mussten. Dort wartet Mende Speisman, zweifache Mutter, seit einem Jahr. Sie wartet und wartet. Sie wartet auf Nachricht von ihrem überaus nutzlosen Ehemann Zwi-Meir, einstiger Jeschiwe-Schüler, dann fliegender Händler, der sich nach Minsk aufgemacht hatte.
Zwi-Meir hält sich selbst für einen subtilen Tora-Gelehrten. Zu dumm, dass er der Jeschiwe verwiesen wurde. Was im Umkehrschluss für ihn nur bedeuten kann: Die Orthodoxie verwirft seine sophistischen – besser gesagt: pseudosophistischen – Ausführungen über Gut und Böse, Adam und Eva, Erkenntnis und Schuld nur deshalb so rigide, damit er ihr nicht den Boden entziehe!
Kurz nach Mitternacht bricht sie auf.
Nun reicht es Mendes Schwester Fanny. Ihr Vater in Grodno war einst ein angesehener Schochet gewesen. Von ihm erlernte sie (als Frau ungewöhnlicherweise) den Umgang mit scharfen Messern. Beim Schächten stellte sie sich überaus gewandt an, zugleich mit Empathie für die dem Tod geweihten Tiere. Sie fasst kurzerhand einen Entschluss und macht sich zwei Stunden nach Mitternacht zu einer Reise auf, die zur Odyssee werden soll. An einem Bein festgeschnallt: ihr kleines, sehr scharfes Messer.
Sie lässt ihren bärenhaften Mann und ihre fünf Kinder zurück, sie will Zwi-Meir ausfindig machen, ihn einen Scheidebrief unterschreiben lassen und mit diesem Dokument zurückkehren, sodass ihre Schwester auf schicklichem und vorgeschriebenem Wege eine neue, glücklichere Verbindung eingehen kann.
Mende Speisman wartet vergeblich auf Nachricht von ihrem nutzlosen Ehemann.
Was merkwürdig antiquiert und in der Manier dezidiert vormoderner Epik daherkommt, entpuppt sich als grandioses Erzählpanorama. Dabei verzichtet der 1975 geborene, in Tel Aviv lebende Yaniv Iczkovits, promovierter Philosoph mit Dozenturen in Tel Aviv und New York, klugerweise auf jede aufdringlich postmoderne Ironie.
Begleitet wird Fanny vom riesigen, schweigsamen Fährmann Joschke, Trinker und traumatisiert, weil er vor 40 Jahren in die russische Armee gepresst wurde und blutrünstige Generäle aushalten musste, die gnadenlos ihre Soldaten opferten. Beide lesen einen haarsträubend unmusikalischen Kantor auf sowie einen Wirt und Ex-Captain, einst der beste Jugendfreund Joschkes. Ohne es eigentlich zu wollen, ziehen sie eine tödliche Spur durch die Region. Auf den Plan wird so die Ochrana gerufen, der berüchtigte Geheimdienst des Zaren, in seiner pathologischen Grausamkeit Vorläufer von NKWD, KGB und FSB. Dazu verwirrt die kleine Reisecompagnie, die ja eigentlich nur ein friedliches ziviles Ziel und nichts anderes im Sinn hat, nachhaltig das Militär. Es kommt zu Verdächtigungen, Verwerfungen und haarsträubend komischen, manchmal auch grotesken, gelegentlich tragischen Verwicklungen.
Liebevoll skizziert Iczkovits’ Figuren, die allesamt sympathisch sind, weil allesamt kurzsichtig-subjektiv
Was Iczkovits gewagt hat und was ihm gelang – es brauchte neun Jahre, bis ein deutschsprachiger Verlag es riskierte, den Roman auf Deutsch herauszubringen, der von Markus Lemke gut übertragen wurde –, ist ein raffiniertes Erzähl-Kaleidoskop. Liebevoll skizziert Iczkovits’ Figuren, die allesamt sympathisch sind, weil allesamt kurzsichtig-subjektiv.
Geschult an Jaroslav Hašeks bravem Soldaten Švejk, ist dies eine überwältigende, bei aller Komik (und das Komischste sind die ausführlich ausgebreiteten Selbst- und Fremdeinschätzungen, die in der Regel haarsträubend schief und falsch und egoman verblendet ausfallen) liebevolle Moritat. Sie führt tief hinab zu philosophischen Gedankenkonstrukten von Macht und Individuum, Politik und Glauben, von Irrtum, Propaganda und Zwang. Und zur Suche nach der Wahrheit, die so oft und so ausdauernd durchkreuzt, verweigert, verleugnet und diskreditiert wird und die unter die erbarmungslosen Räder der Geschichte gerät.
Der Regionalchef des berüchtigten
Geheimdienstes Ochrana wird zur zentralen Figur.
Schließlich ist eine Nebenfigur, die am Ende zu einer der Hauptfiguren wird, der immer skrupulösere Regionalchef der Ochrana. Nach einem blutigen Finale, mit dem Iczkovits überrascht, weil es noch chaotischer und irrwitzig doppelbödiger ausfällt als erwartet, muss diese Figur ein multidimensionales, kaum mehr steuerbares, im Ranküne-Level eskalierendes Spiel mit drei-, vier-, fünffachen Lügengeweben weiterdrehen. Darin verheddert er sich ebenso im Kleinen und Emotionalen wie das Imperium im Großen und in pseudo-nationalem Getöse über eigene Größe.
So ist Fannys Rache eine Lektüre, retroaktiv angesiedelt zwischen Isaac Bashevis Singer und Scholem Alejchem, zugleich jedoch eine hochmoderne Parabel über Macht, Machtlosigkeit und die Brutalität der Macht, über Erfindung und Fiktionen. Gäbe es diesen Roman nicht, man müsste ihn erfinden.
Yaniv Iczkovits: »Fannys Rache. Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester«. Übersetzt von Markus Lemke. Unionsverlag, Zürich 2024. 608 S., 28 €