Literatur

Parabel mit Messer

Yaniv Iczkovits beschreibt in »Fannys Rache. Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester« eine Odyssee durch das russische Zarenreich

von Alexander Kluy  15.10.2024 17:11 Uhr

Vor solchen Männern flohen Iczkovits’ Helden: der russische Großfürst Nikolaus (um 1915) Foto: IMAGO/H. Tschanz-Hofmann

Yaniv Iczkovits beschreibt in »Fannys Rache. Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester« eine Odyssee durch das russische Zarenreich

von Alexander Kluy  15.10.2024 17:11 Uhr

Es ist das Jahr 5654, nach christlicher Zählung das Jahr 1894. Motele, südwestlich von Minsk gelegen, ist ein winziges, armes Schtetl, in dem die Zeit langsam vergeht und die Erwartung an die Zukunft nur darin besteht, es möge kein Pogrom diese Ortschaft verheeren.

Sie liegt am Fluss Jasselda im russischen Ansiedlungsrayon zwischen Schwarzem Meer und Litauen, jener Region, in der sich damals Juden ansiedeln durften und mussten. Dort wartet Mende Speisman, zweifache Mutter, seit einem Jahr. Sie wartet und wartet. Sie wartet auf Nachricht von ihrem überaus nutzlosen Ehemann Zwi-Meir, einstiger Jeschiwe-Schüler, dann fliegender Händler, der sich nach Minsk aufgemacht hatte.

Zwi-Meir hält sich selbst für einen subtilen Tora-Gelehrten. Zu dumm, dass er der Jeschiwe verwiesen wurde. Was im Umkehrschluss für ihn nur bedeuten kann: Die Orthodoxie verwirft seine sophistischen – besser gesagt: pseudo­sophistischen – Ausführungen über Gut und Böse, Adam und Eva, Erkenntnis und Schuld nur deshalb so rigide, damit er ihr nicht den Boden entziehe!

Kurz nach Mitternacht bricht sie auf.

Nun reicht es Mendes Schwester Fanny. Ihr Vater in Grodno war einst ein angesehener Schochet gewesen. Von ihm erlernte sie (als Frau ungewöhnlicherweise) den Umgang mit scharfen Messern. Beim Schächten stellte sie sich überaus gewandt an, zugleich mit Empathie für die dem Tod geweihten Tiere. Sie fasst kurzerhand einen Entschluss und macht sich zwei Stunden nach Mitternacht zu einer Reise auf, die zur Odyssee werden soll. An einem Bein festgeschnallt: ihr kleines, sehr scharfes Messer.

Sie lässt ihren bärenhaften Mann und ihre fünf Kinder zurück, sie will Zwi-Meir ausfindig machen, ihn einen Scheidebrief unterschreiben lassen und mit diesem Dokument zurückkehren, sodass ihre Schwester auf schicklichem und vorgeschriebenem Wege eine neue, glücklichere Verbindung eingehen kann.

Mende Speisman wartet vergeblich auf Nachricht von ihrem nutzlosen Ehemann.

Was merkwürdig antiquiert und in der Manier dezidiert vormoderner Epik daherkommt, entpuppt sich als grandioses Erzählpanorama. Dabei verzichtet der 1975 geborene, in Tel Aviv lebende Yaniv Iczkovits, promovierter Philosoph mit Dozenturen in Tel Aviv und New York, klugerweise auf jede aufdringlich postmoderne Ironie.

Begleitet wird Fanny vom riesigen, schweigsamen Fährmann Joschke, Trinker und traumatisiert, weil er vor 40 Jahren in die russische Armee gepresst wurde und blutrünstige Generäle aushalten musste, die gnadenlos ihre Soldaten opferten. Beide lesen einen haarsträubend unmusikalischen Kantor auf sowie einen Wirt und Ex-Captain, einst der beste Jugendfreund Joschkes. Ohne es eigentlich zu wollen, ziehen sie eine tödliche Spur durch die Region. Auf den Plan wird so die Ochrana gerufen, der berüchtigte Geheimdienst des Zaren, in seiner pathologischen Grausamkeit Vorläufer von NKWD, KGB und FSB. Dazu verwirrt die kleine Reisecompagnie, die ja eigentlich nur ein friedliches ziviles Ziel und nichts anderes im Sinn hat, nachhaltig das Militär. Es kommt zu Verdächtigungen, Verwerfungen und haarsträubend komischen, manchmal auch grotesken, gelegentlich tragischen Verwicklungen.

Liebevoll skizziert Iczkovits’ Figuren, die allesamt sympathisch sind, weil allesamt kurzsichtig-subjektiv

Was Iczkovits gewagt hat und was ihm gelang – es brauchte neun Jahre, bis ein deutschsprachiger Verlag es riskierte, den Roman auf Deutsch herauszubringen, der von Markus Lemke gut übertragen wurde –, ist ein raffiniertes Erzähl-Kaleidoskop. Liebevoll skizziert Iczkovits’ Figuren, die allesamt sympathisch sind, weil allesamt kurzsichtig-subjektiv.

Geschult an Jaroslav Hašeks bravem Soldaten Švejk, ist dies eine überwältigende, bei aller Komik (und das Komischste sind die ausführlich ausgebreiteten Selbst- und Fremdeinschätzungen, die in der Regel haarsträubend schief und falsch und egoman verblendet ausfallen) liebevolle Moritat. Sie führt tief hinab zu philosophischen Gedankenkonstrukten von Macht und Individuum, Politik und Glauben, von Irrtum, Propaganda und Zwang. Und zur Suche nach der Wahrheit, die so oft und so ausdauernd durchkreuzt, verweigert, verleugnet und diskreditiert wird und die unter die erbarmungslosen Räder der Geschichte gerät.

Der Regionalchef des berüchtigten
Geheimdienstes Ochrana wird zur zentralen Figur.

Schließlich ist eine Nebenfigur, die am Ende zu einer der Hauptfiguren wird, der immer skrupulösere Regionalchef der Ochrana. Nach einem blutigen Finale, mit dem Iczkovits überrascht, weil es noch chaotischer und irrwitzig doppelbödiger ausfällt als erwartet, muss diese Figur ein multidimensionales, kaum mehr steuerbares, im Ranküne-Level eskalierendes Spiel mit drei-, vier-, fünffachen Lügengeweben weiterdrehen. Darin verheddert er sich ebenso im Kleinen und Emotionalen wie das Imperium im Großen und in pseudo-nationalem Getöse über eigene Größe.

So ist Fannys Rache eine Lektüre, retroaktiv angesiedelt zwischen Isaac Bashevis Singer und Scholem Alejchem, zugleich jedoch eine hochmoderne Parabel über Macht, Machtlosigkeit und die Brutalität der Macht, über Erfindung und Fiktionen. Gäbe es diesen Roman nicht, man müsste ihn erfinden.

Yaniv Iczkovits: »Fannys Rache. Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester«. Übersetzt von Markus Lemke. Unionsverlag, Zürich 2024. 608 S., 28 €

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025