»Das ist er!« Ein Blick, und alles ist passiert. Blicke sind im Kino das wichtigste Element der Kommunikation, hier lauern die Widersprüche, hier wird alles ausgesprochen, was sonst ungesagt bleibt: das Unbewusste, Verdrängte, Verheimlichte. Als die 18-jährige Shira und ihre Mutter im Supermarkt heimlich einen jungen Mann beobachten, sagt ihr die Mutter diesen Satz: »Das ist er!« Es ist dieser Mann aus einer Familie, »die passt«, den die Eltern für Shira ausgesucht haben. Und Shira, die in ihrem Leben noch keinen Kinofilm gesehen hat, keine Jugendzeitschrift gelesen, und die daher in Liebesdingen mehr als unerfahren ist, ist sofort überzeugt, hier dem Mann ihres Lebens begegnet zu sein. Sie wird die arrangierte Hochzeit aus innerer Überzeugung annehmen.
Matriarchat Rama Burshteins Fill The Void (Lemale Et Ha’Chalal), der als israelischer Beitrag im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig lief, lässt den Zuschauer in eine den meisten höchst fremde Welt eintauchen: die einer jüdisch-orthodoxen Familie aus Tel Aviv. Es scheint zumindest zu Hause – das Berufsleben sieht man nicht – ein Matriarchat zu sein. Die Mütter sprechen über alles und entscheiden alles. Der kalte Pragmatismus dieser Mütter, ihr Klartext, die Offenheit und Direktheit, mit der sie reden, wirkt sehr angenehm, »down to earth« und auf spezielle Art sehr schön.
Als gerade die ersten Hochzeitsvorbereitungen für Shira beginnen, stirbt ihre ältere Schwester Ester unerwartet bei der Geburt des ersten Sohnes. Plötzlich steht die Frage im Raum, was mit dem Witwer und dem kleinen Sohn geschehen soll. Bald taucht die Forderung aus Teilen der Familie auf, Shira solle doch den Witwer heiraten. So bliebe der kleine Enkel in der Nähe der Großeltern. Eine harte Wahl steht Shira bevor: Sie muss wählen zwischen ihrem individuellen Glück und dem der Eltern, der Macht der Gemeinschaft.
Fill The Void stellt vor allem deren positive Seite ins Zentrum: die Sicherheit und Geborgenheit, die diese geschlossene Community bietet, die alltäglichen Schönheiten des gemeinsamen Lebens. Schattenseiten werden trotzdem nicht verschwiegen: der Druck, unter dem alle Frauen stehen. Ob man heiratet, ist gar nicht mehr die Frage, sondern nur, wann endlich und vielleicht noch wen? »Hat man als Frau überhaupt ein Leben ohne Mann?«, wird einmal gefragt.
Debüt Gespielt wird Shira von der 22-jährigen Hadas Yaron, die eine ganz leichte Ähnlichkeit mit Chiara Mastroianni hat und für ihre Rolle in Venedig als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Es ist die erste Rolle der Israelin, die gerade an der Tichon Eroni Alef Art School in Tel Aviv ihren Abschluss gemacht hat und in Venedig betonte, ihr sei die chassidische Welt so fremd wie den nichtjüdischen Zuschauern.
Im Vorfeld war zu erfahren, die Regisseurin, selbst orthodoxe Jüdin, habe sich den Film von einem Rabbiner abnehmen lassen. Fill The Void fügt sich in eine nicht erst in vielen Venedig-Beiträgen erkennbare allgemeinere Tendenz des Zeitgeistes, das Orthodoxe verschiedenster Couleur interessant zu finden. Natürlich kann man sich mit gutem Recht fragen, ob man Religion und Orthodoxie denn wirklich so wichtig nehmen muss, wie all diese neuen Filme suggerieren.
Aber Fill The Void bedient ohne Frage eines der Bedürfnisse, die im Kino besonders wichtig sind: Er zeigt eine fremde Welt, die man sonst nicht sehen kann. Wir verfolgen Trauerrituale, Besuche beim Rabbi, hören Lieder und Gebete. Und natürlich gibt es am Schluss eine Heirat, eine arrangierte. So ist dies ein Film, der eine Ehe propagiert, die im Kopf entsteht, nicht im Herzen. Die Liebe, so wird nahegelegt, sei dann nur eine Frage der Zeit. So verwundert es nicht, dass manche Beobachter dem Film ein allzu idyllisches Porträt des Lebens orthodoxer Frauen vorwarfen.
intim In ihrer Inszenierung benutzt Rama Burshtein den Weichzeichner ein wenig zu häufig. Ihre Schauspieler sehen insgesamt etwas zu gut aus. Leider sieht die Regisseurin manchmal weg, wenn es gerade interessant wird, etwa beim Tod der Tochter oder bei der Beschneidung. Trotzdem ist dies insgesamt ein überraschend gelungener Film, sehr intim, ohne sentimental zu sein.