Frei und ungestüm, rhythmisch, mitunter ekstatisch, gern auch ein bisschen subversiv: Jazzmusik war auf der HMS Royal Oak, dem riesigen englischen Schlachtschiff, unerwünscht. Jedenfalls vom Kapitän. Denn die Mannschaft liebte den Jazz.
Hier fand sie sich wieder mit ihrer Sehnsucht nach Liebe, Heimat, einem bisschen Glück. Was also tun, wenn der Befehl den Gehorsam verlangt? Die Seemänner folgen ihren Herzen: Sie musizieren, sie singen, selbst noch in Ketten. Zurück in England, erleben sie einen triumphalen Empfang, das Kriegsgericht gibt ihnen recht, der Kapitän muss seinen Hut nehmen. Es folgt ein großes »Halleluja«.
Erzählt wird die Geschichte, auf einer historischen Begebenheit gründend, in dem Jazzoratorium »H.M.S. Royal Oak«. Der Prager Komponist Erwin Schulhoff (1894–1942) und sein Librettist, der Journalist Otto Rombach (1904–1984), siedeln diese Story einer friedlichen Revolte irgendwo im Nirgendwo der Südsee an – als Parabel der Freiheit des Denkens, Meinens und Tuns. Schulhoff scheint zu antizipieren, dass in der Welt, in der er lebt, diese Freiheit höchst gefährdet ist: Am 18. Mai 1931 wird sein Jazzoratorium in Frankfurt am Main uraufgeführt.
VERFOLGUNG Keine zwei Jahre später kommt Adolf Hitler an die Macht. Erwin Schulhoff, Jude, Dadaist, Kommunist und seit April 1941 sowjetischer Staatsbürger, überlebt das NS-Regime nicht. Er wird im Zuge der Deportationen der jüdischen Prager Bevölkerung auf der Festung Wülzburg nahe Weißenburg inhaftiert. Dort erkrankt er an Tuberkulose und stirbt am 18. August 1942.
Genau 80 Jahre danach wird sein Jazzoratorium wieder aufgeführt. Am 18. August 2022 sind es acht Studierende der Hochschule für Musik und Tanz (HfMT) Köln und sieben Mitglieder des Chors der Staatsoper Prag, die dieses Stück, 40 aufregende Minuten lang, in der prächtigen Jerusalem-Synagoge in der Prager Neustadt zu Gehör bringen – in einer neuen, vom großen Orchester auf eine Jazz-Combo reduzierten kammermusikalischen Fassung im Arrangement des Kölner Musikers Frank Engel.
Was sich in der militärischen Männerwelt zugetragen hat, schildern zwei Frauen: Sopranistin Rebecca F. Hagen und Sprecherin Johanna Heyne packen das Publikum eindringlich und hochpräsent. Sie werden begleitet von einem Ensemble, das das Geschehen mit lässiger Leichtigkeit kommentiert und unterstreicht, auf dem Punkt und dynamisch enorm variabel.
KONZEPT Werner Dickel, Professor an der HfMT, hat die jungen Musiker aus Wuppertal und Köln und die etablierten Sänger der Prager Staatsoper mit pädagogischem Geschick und klarem künstlerischen Konzept auf den gemeinsamen Weg gebracht. Und das an einem Ort, der wie kaum ein anderer für abgebrochene Komponistenbiografien steht: in Terezín, dem ehemaligen Ghetto Theresienstadt, wo zwischen 1941 und 1945 so viele Künstler versuchten, dem Grauen etwas zu entgegnen – Malerei, Literatur und eben auch Musik.
Hier setzt die Terezín Summer School seit ein paar Jahren mit ihrer Erinnerungsarbeit an. Sie wolle, sagt Tomáš Kraus, Repräsentant der jüdischen Gemeinden in Tschechien und mitverantwortlich beim veranstaltenden Terezín Composers’ Institute, den Geist einer großen Kultur zurück an die historische Stätte bringen. Und von dort in die Welt.
MUSICA NON GRATA Denn durch die Kooperation mit dem vornehmlich von der deutschen Botschaft in Prag unterstützten Projekt »musica non grata« wird die Initiative breiter wahrgenommen. Auf vier Jahre angelegt, wolle »musica non grata« zeigen, wie reich das tschechisch-deutsch-jüdische musikalische Leben im Prag der Zwischenkriegszeit war, so Kai Hinrich Müller von der HfMT Köln, Forschungsdirektor des Projekts.
Als »mastermind« bezeichnet Müller den künstlerischen Direktor der Prager Staatsoper, Per Boye Hansen, der Schulhoff auch in seinem Haus spielt: Dessen Oper Flammen feierte in der Saison 2021/22 in der Inszenierung von Calixto Bieito ein Comeback und wird auch in der neuen Spielzeit zu sehen sein. Erwin Schulhoff, so scheint es, passt in unsere Zeit – vermutlich, weil er seiner Zeit weit voraus war.