Herr Krakauer, Sie haben dieses Jahr mehrere neue Alben herausgebracht. Eines heißt »Akoka«. Worum geht es dort?
»Akoka« habe ich mit dem klassischen Cellisten Matt Haimovitz und dem Soundtüftler DJ Socalled gemacht. Im Kern geht es um ein 15-minütiges Stück des großen französischen Komponisten Oliver Messiaen. Der gläubige Katholik war während des Zweiten Weltkriegs in einem deutschen Kriegsgefangenenlager interniert. Dort schrieb er ein Stück über die Apokalypse, das Ende der Zeit. Messiaen war gemeinsam mit einem Klarinettisten, einem Geiger, einem Cellisten und einem Pianisten inhaftiert, für die er das Quartett schrieb. Als die französischen Kriegsgefangenen entlassen wurden, durfte Akoka, der Klarinettist, nicht mit nach Hause. Weil er jüdisch war, wurde er mit dem Zug nach Auschwitz deportiert. Aber er konnte abspringen. Er brach sich den Arm, während er die Klarinette unter dem anderen Arm festhielt.
Das klingt filmreif und passt gut zu Ihrem zweiten neuen Album »The Big Picture«.
»The Big Picture« enthält Musik aus Kinofilmen, die wir alle gut kennen – »Cabaret«, »Fiddler on the Roof«, »Das Leben ist schön« und andere, ausschließlich jüdische Filme, darunter drei von Woody Allen. All diese wunderbaren Filmmusiken sind meine Geschichte und die meiner Familie, aus Sicht eines heranwachsenden jüdischen Amerikaners vom Jahrgang 1956.
Wie war denn Ihre jüdische Kindheit?
Ich wurde wie meine Eltern in New York City geboren. Meine Großeltern und meine Urgroßeltern kamen aus Russland, Polen und Lemberg in der Ukraine. Die Mutter meines Vaters kam aus einer Kleinstadt bei Minsk. Sie alle immigrierten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA. Meine Mutter war Geigerin, mein Vater ein Musikliebhaber und Amateursänger. So war immer Musik im Haus. Mit zehn Jahren bekam ich die Chance, ein Orchesterinstrument zu lernen. Meine Mutter sagte: Du bist zu alt für die Geige. Du solltest besser Klarinette oder Flöte lernen. Also nahm ich die Klarinette.
Und wurden zum Jazzfan.
Mit elf habe ich erstmals Sidney Bechet gehört, und das hat mein Leben komplett verändert: Ich wollte Jazz-Musiker werden.
Stattdessen gingen Sie in die Klassik.
In meinen Zwanzigern hatte ich eine Krise gehabt. Ich bezweifelte damals, dass ich eine originäre Stimme habe, dass ich überhaupt gut genug für den Jazz sei. Also habe ich mich zehn Jahre lang auf klassische Musik konzentriert, spielte Kammer- und zeitgenössische Musik.
Und wie kamen Sie von dort zur jüdischen Musik?
Da muss ich etwas ausholen: Ich bin in einer nichtreligiösen, assimilierten Familie großgeworden. Barmizwa wurde ich nur, weil meine Eltern sagten: Wenn du das nicht machst, brichst du deinen Großeltern das Herz. Leider war der Vorbereitungsunterricht nicht gut, ich habe mich gelangweilt. Sofort nach der Barmizwa habe ich deshalb die Löschen-Taste gedrückt, was Religion angeht. Ich habe das aber immer bedauert, vor allem, wenn ich Kids gesehen habe, die eine wunderbare Barmizwa hatten und fließend Hebräisch sprechen konnten. Und dann gab es da noch meine Oma mit ihrem herben jiddischen Akzent. Ich dachte mir: Da existiert etwas in meiner Welt, das ich überhaupt nicht kenne, eine verschüttete Wurzel. So fing ich in den späten 80er-Jahren an, Klezmer zu spielen. Ich dachte mir, das könnte ein Weg sein, meine ureigene Stimme doch noch zu finden.
Sie waren damals schon 30. War der späte Einstieg schwer?
Ich musste eine Menge lernen. Ich studierte Naftule Brandwein und die Platten von Dave Tarras. Doch auch, wenn ich sehr hart studieren musste, um jedes Tremolo, jeden Klang und jede Farbe zu begreifen, fühlte es sich doch natürlich an. Ich dachte mir immer, oh, das klingt ja wie die Stimme meiner Großmutter. Dann fragten die Klezmatics mich, ob ich mit ihnen spielen wollte. Es gab damals dieses Vorurteil, Klezmer sei etwas für die alten Leute in Florida, und wenn die sterben würden, dann stürbe mit ihnen auch der Klezmer. Aber dann kamen wir Ende der 80er-Jahre, als die Mauer fiel, nach Berlin. Wir spielten mit Verstärkern und klangen wie eine jüdische Punkband. Und siehe da, die Leute tanzten und machten Party. Und all diese Leute waren ganz und gar nicht jüdisch. Per Zufall haben wir eine neue Bewegung losgetreten.
Zu der gehörte auch und vor allem John Zorns »Radical Jewish Culture«.
Zorn hat mich 1992 für sein legendäres »Kristallnacht«-Konzert in München engagiert, neben dem Klezmatics-Trompeter Frank London, Anthony Coleman, Mark Dresser, Mark Feldman und Marc Ribot. Das Konzert ist später als Beginn der Radical Jewish Culture in die Geschichtsbücher eingegangen. Wobei Zorn den Begriff zwar erfunden hat, doch die Bewegung gab es schon länger. Vorher existierten bereits die Klezmatics oder Don Byrons Mickey Katz-Project. Aber Zorn hat mit Tzadik Records ein Plattenlabel gegründet und mit Radical Jewish Culture nicht nur einer Bewegung, sondern auch einer ganzen Plattenserie seinen Namen gegeben. Unter diesem Namen sind nicht nur wegweisende Zorn-Alben wie das »Masada-Songbook« oder »The Book of Angels« erschienen, sondern auch die jüdische Musik seiner Kollegen, darunter auch meine CD »Pruflas«.
Inwiefern ist Ihre eigene Musik »radical Jewish«?
Ich habe das erste Album der Radical Jewish Culture Series gemacht. Es hieß »Klezmer Madness«, wie meine damalige Band. Ich führte die Ästhetik der Klezmatics fort, und die war anti-nostalgisch. Ich mag keinen Museums-Klezmer. Ich liebe es, wenn die Leute aufstehen und tanzen und direkt auf die Musik reagieren – mit Körper und Geist.
Mischen Sie deshalb Klezmer mit Funk?
Ich bin mit Funk großgeworden, mit James Brown und The Parliament. Selbst gespielt habe ich Funk erst, als ich mit Fred Wesley, dem Posaunisten von James Brown, in Kontakt kam. Dazu kam noch DJ Socalled, und im Oktober 2006 war dann die Band Abraham Inc geboren.
Ihre aktuelle Band nennen Sie »Ancestral Groove«. Warum dieser Name?
Klezmer war für mich auf Dauer zu einengend. »Ancestral Groove« passt besser zu dem, was ich derzeit spiele. Wir leben in einer sehr spannenden Zeit, in der wir uns vom Klezmeretikett lösen und einfach nur Musik machen können. Die jiddische Kultur, die es vor dem Krieg gab und die von den Immigranten mitgebracht wurde – diese Kultur ist tot. Sie ist nicht mehr Teil des Alltags. Wir können darüber heulen, aber es ist eine Tatsache.
Das Gespräch führte Jonathan Scheiner.