Kino-Tipp

Ohne Rücksicht auf die Opfer

Berüchtigt als »Schlächter von Wilna«: 1962 kam Franz Murer (Karl Fischer, M.) in seiner Heimat Österreich vor Gericht. Foto: Der Filmverleih

Die Gattin des steirischen Lokalpolitikers und Großbauern Franz Murer ist entsetzt. Sie hatte ihrem Mann für den großen Prozess extra den guten schwarzen Anzug ins Gefängnis mitgebracht. Doch sein Verteidiger, der Rechtsanwalt Böck, besteht darauf, dass er stattdessen einen alten, schon etwas abgewetzten Janker trägt. Der äußere Schein ist in dem akribisch inszenierten Drama, dem ein Strafprozess seinem Wesen nach gleicht, von entscheidender Bedeutung.

Der lange getragene Janker soll den Geschworenen den Eindruck vermitteln, dass der wegen Kriegsverbrechen angeklagte Franz Murer einer von ihnen ist, ein einfacher, eng mit dem Land und seinen Werten verbundener Mann.

»Ich habe nur meine Pflicht getan«, das ist die Entschuldigung, die immer wieder von Seiten der Täter bemüht wird.

Der Titel von Christian Froschs Rekonstruktion des wohl größten und doch in Vergessenheit geratenen Kriegsverbrecherprozesses in der österreichischen Nachkriegsgeschichte weckt nicht zufällig Erinnerungen an Otto Premingers Anatomie eines Mordes. Wie sein in die USA emigrierter Landsmann schenkt Christian Frosch noch den kleinsten Details große Aufmerksamkeit. In ihnen offenbaren sich die Wahrheiten, die der Prozess in Graz im Sommer 1963 eigentlich für immer verbergen sollte.

WIESENTHAL 1948 war Franz Murer, der als Mitglied des »Reichskommissariats Ostland« von 1941 bis 1943 für das jüdische Ghetto in Vilnius verantwortlich war, in Litauen wegen seiner Kriegsverbrechen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. 1955 wurde er in seine Heimat überstellt, wo ihm erneut der Prozess gemacht werden sollte.

Da einflussreiche Kräfte ihre schützenden Hände über ihn hielten, kam er allerdings umgehend frei und konnte unbehelligt in der Steiermark leben. Erst 1962 wurde er auf Drängen Simon Wiesenthals (im Film dargestellt von Karl Markovics) erneut verhaftet und schließlich angeklagt. Aus der ganzen Welt reisten Überlebende des Ghettos von Vilnius an, um im Prozess gegen Murer auszusagen.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Immer wieder gleitet Frank Amanns ­Kamerablick langsam von einem der Prozessbeteiligten zum anderen. Mal rückt er einen der Zeugen in den Fokus, die im Zuge ihrer Aussagen die ganzen Gräuel der NS-Verbrechen noch einmal durchleben, mal fällt er auf die Zuschauer im Saal, die ihr ­Urteil längst gefällt haben. Die langen ­Brennweiten, mit denen Amann arbeitet, erzeugen ein Gefühl von physischer Nähe. Es ist, als säße man mit im Gerichtssaal.

BEOBACHTUNGEN So ­entsteht aus unzähligen kleinen Beobachtungen ein großes gesellschaftliches Panorama. In den Vorgängen in und um den Gerichtssaal offenbart sich das wahre Gesicht Österreichs. Der Prozess gegen den »Schlächter von Vilnius« wird zu einem gegen ein ganzes Land, das seine Geschichte ohne Rücksicht auf die Opfer umschreibt.

Durch den Film entsteht aus unzähligen kleinen Beobachtungen ein großes gesellschaftliches Panorama.

»Ich habe nur meine Pflicht getan«, das ist die Entschuldigung, die immer wieder von Seiten der Täter und ihrer Helfershelfer bemüht wird. Selbst Murers Anwalt, der in seinem Schlussplädoyer gezielt antisemitische Ressentiments schürt, wird sich am Ende hinter dieser Phrase verstecken. Nur entschuldigt sie nichts. Sie klagt den, der zu ihr greift, vielmehr an.

»Murer – Anatomie eines Prozesses«, Österreich/Luxemburg 2018, Regie: Christian Frosch, mit Karl Fischer, Karl Markovics u.a.

Seit 22. November im Kino

Zahl der Woche

74 Prozent

Fun Facts und Wissenswertes

 29.01.2025

Ehrung

Historiker Dan Diner erhält Ludwig-Börne-Preis

Diner sei ganz im Sinne Börnes ein »Zeitschriftsteller«, so Daniel Cohn-Bendit

 29.01.2025

New York

Warum Amy Schumer ihr Kind nicht mehr zum Narren halten kann

Die amerikanische Komikerin hat einen fünfjährigen Sohn, der inzwischen lesen kann. Aber das findet die 43-jährige Mutter gar nicht so gut

 29.01.2025

Kino

Monumental verstörend

In seinem Epos »Der Brutalist« zerlegt Regisseur Brady Corbet den amerikanischen Traum

von Jens Balkenborg  29.01.2025

TV-Tipp

Paul Newman im Arte-Themenabend

Spielerdrama »Die Farbe des Geldes« und Doku über den US-Filmstar

 28.01.2025

Kassel

documenta ernennt Wissenschaftlichen Beirat

Die Einrichtung ist eine Konsequenz aus dem Antisemitismusskandal rund um die »documenta fifteen«

 28.01.2025

Hollywood

Der Unbeugsame: Zum 100. Geburtstag von Paul Newman

Rebellische Außenseiterrollen, strahlend blaue Augen, soziales Engagement, jüdischer Familienhintergrund: Der Darsteller war ein Idol seiner Zeit und hat in mehr als 80 Filmen mitgespielt

von Rudolf Worschech  28.01.2025

Tel Aviv

Quentin Tarantino will erstmal »Abba« sein, statt zu arbeiten

Der Meister-Regisseur hat noch einen letzten Film offen. Auf den müssen Fans aber noch eine Weile warten

 28.01.2025

Hollywood

Steven Spielberg wollte wegen »E.T.« Vater werden

Bei den Dreharbeiten von fühlte sich Steven Spielberg wie ein Elternteil der jungen Schauspieler am Set. Ergebnis: Ein Filmklassiker und eine Vorstellung für sein künftiges Privatleben

 27.01.2025