Dokumentation

»Offener Antisemitismus wie auf der documenta längst Normalfall«

In der Kritik: Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen) Foto: picture alliance/dpa

(...) Sie kommen nicht nur zur Selbstvergewisserung zusammen, sondern es gibt viel zu besprechen, zu diskutieren, ja auch auszudiskutieren. Verschwörungserzählungen, Fridays for Future, der schreckliche Krieg in der Ukraine – all das, und mehr, steht auf dem Programm und Sie werden nicht immer alle einer Meinung sein, aber genau darauf kommt es ja an. Wir sind keine Meinungsmaschinerie, aber stehen dennoch zusammen.

Wir brauchen starke jüdische Perspektiven in unserer Gesellschaft heute mehr denn je. Antisemitismus ist in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Wir alle kennen die Zahlen der Bertelsmann-Stiftung, die Hälfte der Deutschen wollen einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen, ein Viertel ist der Meinung, Juden hätten zu viel Einfluss in der Welt. Ja, wenn es eine Partei in den Parlamenten gibt, die diese Sichtweisen verbreitet, dann kommen sie alle aus ihren Löchern und glauben, jetzt kann ich das auch sagen.

Solidarität mit BDS-Unterstützern ist also keine Unterstützung des BDS. Zumindest im Kulturstaatsministerium scheint man dieser bestechenden Logik zu folgen.

Schwer getroffen hat mich ein Satz aus der Leipziger Autoritarismus-Studie, dem 61 Prozent der Befragten zugestimmt haben: »Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre vergangen sind.« Dieses Denken hat längst Einzug in weite Bereiche der Gesellschaft gefunden, die eigentlich als aufgeklärt daherkommen, wie zum Beispiel der Kulturbetrieb. 

Der offene Antisemitismus, den wir in diesem Jahr auf der documenta gesehen haben, ist längst der Normalfall im weltweiten Kunstbetrieb geworden. Die Systematik, mit der sich BDS im Kulturbereich festgesetzt hat ist simpel. Der neue Intendant des öffentlich finanzierten Hauses der Kulturen der Welt, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, gab zuletzt in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen einen doch recht eindeutigen Einblick in dieses Vorgehen.

Obwohl er einen Brief unterschrieben hatte, der sich gegen die Verurteilung von Institutionen oder Künstlern aussprach, die sich offen zu BDS bekennen, war er der Meinung, das sei keine Unterstützung des BDS. Er sagte, Zitat: »Ich hatte den Brief in Solidarität mit anderen Kulturinstitutionen unterschrieben.«

Die Systematik, mit der sich BDS im Kulturbereich festgesetzt hat ist simpel.

Solidarität mit BDS-Unterstützern ist also keine Unterstützung des BDS. Zumindest im Kulturstaatsministerium scheint man dieser bestechenden Logik zu folgen. So hält man sich möglichst lange selbst sauber und kann in Ruhe abwarten, wie sich die Gewissheiten verschieben. Ich habe das in der Vergangenheit Paradigmenwechsel genannt und wir werden nicht müde, das in Zukunft immer wieder anzusprechen.

Seite an Seite, wenn es darauf ankommt und ich bin froh darüber, mit der JSUD eine mutige Organisation zu haben, die genau diese schmerzhaften Themen anspricht. Wie Ihr, und ich nenne einmal stellvertretend Anna Staroselski, in diesem Jahr auch in der öffentlichen Debatte Präsenz und Haltung gezeigt habt, hat mich wirklich beeindruckt!

Erinnerungskultur hat auch etwas mit dem Blick nach vorn zu tun; sie geht über das Erinnern an die Schoa hinaus.

Und genau das ist der Weg, den wir gehen müssen. Wir wollen natürlich nicht immer nur zurückblicken; das ist das, was viele von uns erwarten. Aber Erinnerungskultur hat auch etwas mit dem Blick nach vorn zu tun; sie geht über das Erinnern an die Schoa hinaus. Nur, wenn wir wissen, woher wir kommen, können wir uns wirklich sicher sein, wohin wir wollen – wohin wir müssen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Frage, das ist klar, aber es ist der tägliche Kampf der Jüdinnen und Juden, das sichtbar zu machen. Es ist unser Kampf.

Ich habe vorhin von starken jüdischen Perspektiven gesprochen. Und die Betonung liegt auf PerspektivEN. Mit Einheitsbrei kommen wir nicht weiter, es braucht aber dennoch eine Identität, die uns zusammenhält. »Jüdischsein«, Judentum, bringt Prinzipien mit sich, die dafür sinnstiftend sind:

  • Das dialogische Prinzip »Du und ich«; manche mögen ihn kennen, Martin Buber.
  • Menschlichkeit als »Mitmensch«-Sein zu verstehen, als Pflicht der Verantwortung für die Mitmenschen; die Antwort Leo Baecks auf Nationalismus und Menschenverachtung.
  • Eine innere Festigkeit – denken Sie vielleicht an Joseph Roths »Hiob« – auch als Antwort auf alles Fanatische.

Das sind Prinzipien, die ein Dach bilden, unter dem sich freies Denken und Zusammenhalt ergänzen. Die Einheit des Judentums ist dabei nicht selbstverständlich, war sie nie. Um sie muss in jeder Generation immer wieder neu gerungen werden.

Einer der großen Rabbiner der Nachkriegszeit Nathan Peter Levinson sel A. hat geschrieben: »Ein Ort ist, mit wem Du bist«. Für Levinson war die Suche nach einem Ort essenziell. Für ihn, der noch unter Leo Baeck in Berlin studierte und 1941 als Zwanzigjähriger mit seiner Familie aus Deutschland floh, war das Konzept des Ortes durch Gemeinsamkeit auch eine Möglichkeit des Rückzugs in ungewissen Zeiten.

Die Einheit des Judentums, das war ihm bewusst, konnte nur ein Ort sein, der mehrere Perspektiven zulässt. Er war dadurch auch ein Brückenbauer in die nichtjüdische Gesellschaft und er war auch mir ein wichtiger intellektueller Ratgeber. Ich wollte Ihnen daher diese Idee der Einheit des Judentums, die durch Multiperspektivität erst entsteht, mit auf den Weg geben, bevor Sie in die Debatte gehen.

Sie wird für die jüdische Gemeinschaft als Ganzes ein wichtiger Impuls werden und ich bin gespannt auf die Ergebnisse. »Die Zukunft gehört uns« – das ist vielleicht die Weiterentwicklung der Suche nach einem Ort und ich glaube, Levinson hätte das gefallen.

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