Wem von uns ist es schon vergönnt, postum sein eigenes Andenken zu schärfen? Amos Oz sel. A. darf es mit dem Büchlein Die letzte Lektion. Doch leicht gemacht wird es dem Autor nicht: »Ein Leitfaden für die Zukunft« steht neutral auf der deutschen Ausgabe. »Die Rechnung ist noch nicht beglichen«, heißt es dagegen vollmundig im hebräischen Original.
Denn es war ein blitzwacher, streitbarer Oz, der im Juni 2018, ein halbes Jahr vor seinem Tod, in der Tel Aviver Universität auf die Bühne stieg, um ohne Manuskript oder Notizen eine knappe Stunde lang seine Rechnung zu präsentieren und um klarzustellen, dass er alles andere als der Kuschelpazifist ist, zu dem ihn sowohl die europäische Linke als auch die israelische Rechte so gern stilisiert hat – wenn auch mit entgegengesetzten Vorzeichen.
Er war nie der Kuschelpazifist, zu dem ihn Rechte wie Linke stilisierten.
Mit Verweis auf die Essaysammlung Liebe Fanatiker, die Oz bereits als Stafettenübergabe an die Enkelgeneration in Sachen Frieden verstanden wissen wollte, fasst die letzte öffentliche Rede noch einmal zusammen, was Israels großer Erzähler und politischer Aktivist »auf dem Feld der politischen, kulturellen, historischen und zionistischen Auseinandersetzung« hinterlassen möchte. Sogar den eigenen Tod ließ er nicht unerwähnt.
GEWALT Nun kann man es nachlesen: Mit seinen klaren, sinnlichen Worten, in diesen herrlich ordentlichen Sätzen hält Oz fest, was wir an ihm hatten, holt er zurück, was wir vielleicht schon vergessen haben, und macht er deutlich, was wir vermissen.
»Ich bin nicht gegen den Stock«, haut er dem Zuhörer und Leser gleich zu Beginn um die Ohren. »Im Gegensatz zu meinen Kollegen in Europa und Nordamerika, die mich manchmal, nur leider meist aus den falschen Gründen in ihre Arme schließen, habe ich nie gedacht, dass Gewalt das schlechthin Böse in der Welt ist«, sagt Oz und schickt seinen berühmten strahlenden Blick in den Raum. Nein, »das ultimativ Böse in der Welt ist die Aggression«. Und der müsse man nicht selten mit Gewalt Einhalt gebieten.
Denn, so der Sabra, der sowohl im Sechstage- als auch im Jom-Kippur-Krieg gekämpft hat: Die zwei seiner Verwandten, die von den Nazis in Konzentrationslager verschleppt wurden, seien nicht »von Friedensdemonstranten mit schönen Parolen, Ölzweigen und Tauben« befreit worden, »sondern von Soldaten der 14 Alliierten mit Helmen und Maschinengewehren«.
Hätte der Staat Israel, hätte das jüdische Volk keinen Stock, »lägen wir entweder tot unter der Erde oder wir wären zumindest mit Brachialgewalt von hier vertrieben worden. Wir sind hier, weil wir einen großen Stock haben«, sagt der Mann im blauen Kibbuznik-Shirt, der mit gerade einmal 14 Jahren sein Elternhaus verließ und sich umbenannte von Klausner in Oz – das hebräische Wort für Mut. Dies allen friedensbewegten Menschen ins Stammbuch geschrieben, die mit allen Privilegien geboren wurden, die es braucht, um weder Krieg noch Diskriminierung erleben zu müssen.
ZWEISTAATENLÖSUNG Oz, Israels meistübersetzter Autor von mehr als 40 Romanen und Erzählungen, war gerade einmal 28 Jahre alt, als er nach Ende des Sechstagekrieges 1967 in einem Zeitungsartikel die Zweistaatenlösung forderte, da »Besatzung korrumpiert, auch wenn sie unvermeidbar ist«. Das erforderte damals großen Mut. Seine Metapher von der Scheidung, die Israelis und Palästinenser durchstehen müssten, das »Aufteilen des kleinen Hauses in zwei noch kleinere Wohnungen«, wurde erst viel später zum geflügelten Wort. Er sei ein »großer Freund von Kompromissen«, sagte Oz einmal im Interview mit dem US-Magazin »New Yorker«, »weil die Alternative der Kampf bis auf den Tod ist«.
Deshalb erteilt Oz auch der Idee eines binationalen Staates eine klare Absage. Außer der Schweiz gebe es kein erfolgreiches Beispiel. Und die demografische Entwicklung würde aus dem jüdischen Staat bald einen arabischen machen – »vom Meer bis zum Jordan«.
Aber »ich will keine Minderheit sein«, konstatiert Oz. »Nicht nur unter Arabern, ich möchte nirgendwo mehr Minderheit sein. Nicht nach allem, was mir meine Eltern und Großeltern erzählt haben. Nicht mit all dem, was ich in meinen Genen mit mir herumschleppe.« Da scheint die Zweistaatenlösung reiner Pragmatismus.
VERGANGENHEIT Etwas, das diese aber verhindere, sei die »Rekonstruktionitis«. Auf beiden Seiten. »Das Suchen in der Dimension des Raumes nach etwas, was es längst nicht mehr gibt«, erklärt Oz. Der Palästinenser, der auf das Recht auf Rückkehr poche, obwohl der Ort der Sehnsucht gar nicht mehr existiert. Der jüdische Israeli, der den dritten Tempel bauen wolle, um Jerusalem »wiederherzustellen«. »Absurd«, sagt Oz und schlägt wütend aufs Podest.
Oz erinnert an die Juden, die aus arabischen Ländern vertrieben wurden.
Der einzige Grund dafür, dass während und nach der Schoa eine halbe Million europäischer Juden nach Israel kam, sei Lebensgefahr gewesen – und die Tatsache, dass sie nirgendwo sonst hinkonnten, so Oz. Und das gelte übrigens auch für Hundertausende Juden, die aus arabischen Ländern und dem Iran vertrieben wurden.
Bleibt der Optimismus, den Oz sich nie hat nehmen lassen. Und der speist sich aus der Hoffnung auf eine politische Führung, die dem Land sagen werde, was seine Bewohner längst wüssten: dass die Scheidung notwendig sei, wenn der jüdische Staat eine Chance haben soll. »Im Herzen wisst ihr das doch schon, ihr fahrt schon lang nicht mehr dorthin, ihr wisst, dass das nicht Teil der Heimat ist, ihr wisst, dass man auch sehr gut ohne leben kann. Also, dann machen wir das jetzt. Es wird schwierig werden und kompliziert, es wird wehtun, aber lasst es uns endlich machen, dann haben wir es hinter uns«, formuliert Oz schon einmal vor.
Es ist das Ende seiner Rede, und plötzlich wird sichtbar, welche Kraft sie den 79-Jährigen kostet, welche Kraft ihn wohl auch dieses Leben kostet. »Die Rechnung ist noch nicht beglichen«, sagt er, bedankt sich und geht ab.
Amos Oz: »Die letzte Lektion. Ein Leitfaden für die Zukunft«. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Suhrkamp, Berlin 2020, 57 S., 10 €