Essay

Ödnis und Refugium

Der Schriftsteller Chaim Noll, 1954 als Hans Noll im Milieu der DDR-Nomenklatura in Ost-Berlin geboren, siedelte als Regimegegner mit seiner Frau Sabine Kahane und zwei Kindern 1984 in den Westteil der Stadt über und lebt seit 1998 in Israel. Sein umfangreiches Werk – Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte – kreist nur insoweit um die Wiederentdeckung der eigenen jüdischen Identität, als Noll seit jeher Lektüren und Ortswechsel dazu nutzt, immer weiter auszugreifen und tiefer zu bohren.

Sein Antike-Roman Der Kitharaspieler, der Neros Gewaltherrschaft aus der Perspektive eines jungen jüdischen Chronisten beschreibt, legt davon ebenso Zeugnis ab wie sein neuer, beinahe 700 Seiten umfassender Essay Die Wüste. Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen.

GEISTES-THRILLER Wann hatte man, seit sich die Geisteswissenschaften immer weiter ideologisieren und im Spezialisten-Sprech einigeln, Derartiges zuletzt gelesen: ein stringentes Mäandern (kein Widerspruch!) zwischen Topoi und Zeiten, dargeboten in der eleganten, niemals drögen Sprache eines literarisch und religiös hochgebildeten Intellektuellen! Noll, der mit seiner Familie seit nunmehr über zwei Jahrzehnten im Negev lebt, beschreibt weit mehr als Kontinuitäten und Brüche der Wüstenvorstellungen durch die Jahrhunderte, ja, Jahrtausende. Entstanden ist zugleich eine Art Geistes-Thriller, der von einem ungeheuren Abenteuer berichtet: der Wandlung der Wüste von einem Ort lebensfeindlicher Ödnis zu einem Refugium für Revoltierende, die genau hier das Verantwortung Fordernde eines quasi modernen Freiheitsbegriffs entdeckten. Die Wüstenwanderung des biblischen Volkes Israel als existenzielles Nein zur ägyptischen Sklaverei.

Ein Mäandern zwischen Topoi und Zeiten, in der eleganten, niemals drögen Sprache eines literarisch und religiös hochgebildeten Intellektuellen.

Noch in den apokryphen Geschichten der Makkabäer und dann im 20. Jahrhundert in Lion Feuchtwangers Trilogie um Flavius Josephus wird dieses frühe Wissen weitergetragen, vor allem jedoch in Thomas Manns epochalen Joseph-Romanen, in denen die ganze Ambivalenz der Wüste sichtbar wird: »Die uralte Selbstverständlichkeit dieser Landschaft formt auch diejenigen, die sich ihr anvertrauen.« Auch Manns Moses-Erzählung »Das Gesetz« bedeutete »eine Veränderung seiner Weltsicht, ein neues Wissen um älteste Wahrheiten, das ihn in seinem Widerstand gegen das Barbarische bestärkt«.

SUBTEXTE Ganz ähnlich Friedrich Schillers 1789 in Jena gehaltene Vorlesung »Die Sendung Moses«, in der er »die Nation der Hebräer als ein wichtiges universalhistorisches Volk« beschreibt. Und trotzdem ungemein deprimierend, wie selbst Schiller bereits im Nachsatz glaubte, sich »politisch korrekt« absichern zu müssen und seinen klugen Gedanken schnell ein paar antisemitische Infamien über die zeitgenössischen Juden folgen lässt.

Überhaupt die Sache mit den Subtexten: Eines der Exkurs-Kabinettstücke in Nolls Literaturgeschichte widmet sich der verfälschenden antizionistischen Lesart von Kafkas kryptischer Erzählung »Schakale und Araber«.

Rezeptionsgeschichte kann freilich auch ermutigend sein – ein Weitertragen und Bewahren von Geschichten und Topoi. Denn so wie sich Gustave Flaubert in seiner berühmten Antonius-Erzählung von den christlichen »Wüstenvätern« inspirieren ließ (die kaum denkbar wären ohne die biblischen Propheten, die es einst ebenfalls zur spirituellen Einkehr in die Wüste gezogen hatte), so bedeutete wiederum danach Sigmund Freuds Flaubert-Lektüre eine weitere Horizontöffnung, diesmal psychotherapeutisch grundiert.

TRAUM Und wo bleiben die poetischen Wüsten-Auseinandersetzungen von Paul Bowles über Jack Kerouac bis Else Lasker-Schüler und Ingeborg Bachmann? Auch ihrer hat sich Chaim Noll in seiner Literaturgeschichte angenommen, die dabei jedoch zu keiner Zeile in die Falle enzyklopädischer Trockenheit gerät. Eher gilt für dieses wundersame Buch, was sein Verfasser dem erzsympathischen Antoine de Saint-Exupéry und dessen poetischem Bericht Wind, Sand und Sterne konzediert: »Die konfrontative Gegenüberstellung von Wüste und Paradies, ein uraltes Muster der Weltliteratur, wird aufgehoben in einem geträumten Raum, der beides ist.«

Wobei Noll es nicht beim Träumen belässt und selbst die ökologische Dimension der Wüste (»Sonnenenergie, mineralhaltige Böden, unterirdische Gewässer«) in seine Reflexionen mit einbezieht. In der Tat: Solch ein Buch hat es bislang noch nicht gegeben.

Chaim Noll: »Die Wüste. Literaturgeschichte einer Urlandschaft des Menschen«. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 2020, 878 S., 38 €

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 16.09.2024

Zum 100. Todestag

Doppelausstellung mit Kafka-Comics in Rom

Franz Kafka bebilderte seine oft rätselhaften Werke am liebsten selbst. Andere ließ er nicht gerne ran. Zu seinem 100. Todestag erschien eine Comic-Biografie, die man nun in Rom bestaunen kann

von Sabine Kleyboldt  16.09.2024

Porträt

Eleganz und Lässigkeit

Vor 100 Jahren wurde die jüdische Hollywood-Legende Lauren Bacall geboren

von Sabine Horst  16.09.2024

TV-Tipp

Arte widmet Paul Newman einen Themenabend

Gefängnisdrama »Der Unbeugsame« und Doku über den US-Filmstar

von Jan Lehr  15.09.2024 Aktualisiert

Fernsehen

»Oft klischeehaft verwurstet«

Juri Sternburg über jüdische Familiengeschichten im Fernsehen, seine ARD-Erfolgsserie »Die Zweiflers«, jüdische Familiengeschichten und die Frage nach einer zweiten Staffel

von Clara Engelien  15.09.2024

Hamburg

Igor Levit bei Solidaritätskonzert gegen Antisemitismus

Der Pianist wird mit anderen Musikern in der Elbphilharmonie auftreten

 15.09.2024

Literatur

Gar nichts klar auf der Andrea Doria

Familie, Gefühlschaos, Brasilien und Stefan Zweig: Micha Lewinsky legt ein unterhaltsames Romandebüt vor

von Alexander Kluy  15.09.2024

Aufgegabelt

Dattel-Pistazien-Taschen

Rezepte und Leckeres

 14.09.2024

Rezension

Den richtigen Kurs gefunden

Unser Rezensent ist fasziniert von der Erfolgsgeschichte des US-Einwanderers Juri Radzievsky

von Dmitrij Belkin  13.09.2024