Den sogenannten Bäder-Antisemitismus hat der Historiker Frank Bajohr in seinem wissenschaftlichen Buch Unser Hotel ist judenfrei (2003) beschrieben. Auch die freie Journalistin Kristine von Soden hat recherchiert, wie Juden im 19. und 20. Jahrhundert (bis 1937) an der Ostsee empfangen wurden. Ihr Buch »Ob die Möwen manchmal an mich denken?« Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee gibt einen spannenden Einblick.
Ein paar Nischen waren es, in denen jüdische Erholungssuchende ihre Sorgen zu Hause lassen und sich wie andere des Meeres, der Sonne und der Natur erfreuen konnten. In Cranz wurde beispielsweise 1912 eine Synagoge eröffnet. Sie ist der jüdischen Gemeinde Königsberg zu verdanken, da der Badeort sich 25 Kilometer nördlich der Stadt befand. Heute ist Cranz auf der Karte unter dem Namen Selenogradsk zu finden – und Teil Russlands.
kurgäste Näher an der Grenze zum heutigen Deutschland liegt Kolberg. Die Journalistin Lucia Jacoby berichtete 1910 im »Israelitischen Familienblatt«, dass den jüdischen Kurgästen dort zwei Synagogen der Gemeinde Kolberg zur Verfügung stünden sowie das Gotteshaus des Jüdischen Kurhospitals: »Beide Gebetsstätten sind besonders an den Sabbat-Gottesdiensten weit überfüllt.« Zudem befanden sich dort sechs jüdische Hotels. Dies war aber eine Ausnahme, denn gerade in Badeorten machte sich der Antisemitismus besonders früh bemerkbar.
Bereits im Juni 1896 notiert das Monatsblatt des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, dass »Zinnowitz jüdischen Besuch ablehne« und »Sassnitz antisemitisches Treiben dulde«. Viele andere jüdische Publikationen druckten ebenso Listen, die angaben, wo jüdische Gäste nicht willkommen waren. Der Judenhass an der Ostsee äußerte sich vielfältig zu dieser Zeit; sogar das liberale »Leipziger Tageblatt« griff ihn in einem Artikel über den »Zellen-Antisemitismus« auf. Als Zellen bezeichnete man Umkleidekabinen, die besonders in der Gegend um Warnemünde existierten. Ihre Innenwände waren oft mit Schmähungen beschmiert, die sich gegen jüdische Badegäste richteten.
reisehandbuch Neben dem Studium dieser Listen galt es für jüdische Urlauber, bei Prospekten und Anzeigen zwischen den Zeilen zu lesen. Beschreibungen wie »christlich«, »deutsch« oder »empfohlen vom Deutschen Offizier-Verein« waren Hinweise, von einer Buchung abzusehen. Der 1884 gegründete Verein veröffentlichte ein Reisehandbuch mit »gut-bürgerlichen« Hotels und Pensionen, ohne konkret zu schreiben, dass diese keine jüdischen Gäste aufnahmen.
Ob die Möwen manchmal an mich denken? stellt Orte auch mithilfe prominenter Besucher vor: Else Lasker-Schüler schreibt über Kolberg, Victor Klemperer über Heringsdorf, Mascha Kaléko über Hiddensee. Von Sodens Buch von 2018 ist jetzt in einer erweiterten, sehr empfehlenswerten Neuausgabe erschienen.
Kristine von Soden: »›Ob die Möwen manchmal an mich denken?‹ Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee«. Erweiterte Neuauflage. AvivA, Berlin 2023, 240 S., 22 €