Die Stadt Kielce im Südosten Polens ging im 20. Jahrhundert gleich zweimal in die Annalen der Schreckensgeschichte ein: 1941 hatte die SS hier ein Ghetto errichten lassen, und im Juli 1946 verübte ein polnischer Mob ein Pogrom an zurückgekehrten Holocaust-Überlebenden, das 42 Todesopfer forderte.
Zu dieser Zeit befand sich Gustaw Herling, am 20. Mai 1919 in ebendiesem Kielce geboren, bereits in Italien – zuvor hatte er gegen die Truppen der Wehrmacht in der berühmten Schlacht von Monte Casino gekämpft und war für seinen Mut mit einem hohen militärischen Orden ausgezeichnet worden.
nazi-spion Nachdem 1939 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, hatte Herling versucht, aus dem von Deutschen und Sowjets überfallenen Polen via Litauen nach Westeuropa zu gelangen, wurde jedoch vom NKWD verhaftet. Ausgerechnet er, der linke agnostische jüdische Pole, wurde beschuldigt, ein Nazi-Spion zu sein, und kam für anderthalb Jahre in ein Zwangsarbeitslager in der Nähe des nördlichen Archangelsk.
Sein Überleben verdankte er schließlich jenem Abkommen zwischen Stalin und der in London ansässigen polnischen Exilregierung, das 1941 zur Freilassung von Häftlingen und zur Gründung polnischer Einheiten führte, der sogenannten General-Anders-Armee, die danach im Nahen Osten und in Italien kämpfte.
Der linke jüdische Pole wurde beschuldigt, ein Nazi-Spion zu sein.
Dort lernte Herling schließlich drei Menschen kennen, die sein gesamtes Berufsleben als Schriftsteller und Publizist prägen sollten: Sofia und Zygmunt Hertz, die als polnische Juden ebenfalls das stalinistische Lager überlebt hatten, sowie den litauisch-polnischen Adels-Nachfahren Jerzy Giedroyc. Zusammen gründeten sie in Rom die Exilzeitschrift »Kultura«, die schließlich in einen Pariser Vorort umsiedelte und bis ins Jahr 2000 die antitotalitär-liberale polnische Auslandspublikation war.
ITALIEN Gustaw Herling blieb in Italien und heiratete eine Tochter des italienischen Philosophen Benedetto Croce; in Kultura veröffentlichte er im Laufe der Jahrzehnte zahlreiche Essays und Erzählungen, Anfang der 70er-Jahre in Fortsetzungen auch sein literarisches Tagebuch bei Nacht geschrieben. Zu dieser Zeit war er bereits der berühmte Autor von Welt ohne Erbarmen, der Erinnerungen an die Zeit in NKWD-Gefängnissen und im stalinistischen Zwangsarbeiterlager.
»Trotz starken Frostes waren die Gefangenen fast alle barfuß, hatten nur Lumpen am Leibe und waren so erschöpft, dass sie kaum vorwärtskamen. Vor meinen Augen brachen am Lagertor zwei Gefangene zusammen und starben auf der Stelle. Auf Befehl des Lagerführers marschierten die Gefangenen unter den Klängen eines Akkordeons zur Arbeit. An meinem ersten Tage dort fielen drei Gefangene aus der Brigade bei der Arbeit tot um. In der Isolierungszone ermordeten stärkere Gefangene die schwächeren, um sich ihre Verpflegung anzueignen, gingen dabei aber völlig straflos aus.«
Das bereits 1951 erschienene Buch war eines der ersten über den Gulag, hatte jedoch trotz eines Vorworts von Bertrand Russell keinen französischen Verlag finden können. Die damals in Paris kulturell tonangebenden Kommunisten leugneten die Existenz sowjetischer Lager ebenso wie die antisemitischen Kampagnen der späten Stalinzeit. Auch Herlings Freund Albert Camus, der sich für das Buch einsetzte, galt der KP als »Lügner und Verräter«.
ILLUSION Aufgrund solcher Erfahrungen warnte Herling noch ein halbes Jahrhundert später in seinem Tagebuch bei Nacht geschrieben vor einer ahistorischen Dämonisierung Stalins und des Stalinismus, vor der einlullenden Illusion, »die Pforten der Hölle zuschlagen und fest verriegeln zu können«.
Der antitotalitäre Intellektuelle war jedoch nicht zum Eiferer geworden. Das mediterrane Licht, das bereits Camus als Quelle der Klarheit und Heilung beschrieben hatte, leuchtet in Herlings Notaten, die trotz der Erfahrung, lange Jahrzehnte auch vom italienischen Literaturbetrieb ignoriert worden zu sein, frei sind von Bitterkeit.
Wo das freie Wort unterjocht wird, entstehen geradezu zwangsläufig Verhörzellen und Lager.
IRONIE Im Gegenteil: Lustvoll wird Emil Ciorans »Portion Schwärze, die er stets zur Hand hat«, verspottet, Ernst Noltes dubioses Geschichtsverständnis einer Prüfung unterzogen und die Hoffnung geäußert, Russland möge nicht etwa ein neuer apodiktischer Dostojewski oder Solschenizyn erstehen, sondern ein illusionslos-humaner »heutiger Nachkomme Tschechows« – oder zumindest ein Nachkomme des 1980 in Spanien tödlich verunglückten Dissidenten Andrej Amalrik: »Was wir uns im Meer der Probleme und Sorgen wahrlich nicht wünschen sollten, ist eine hochgetriebene nationale Megalomanie.« Anstatt einer »apokalyptischen Bewertung des Westens« sei jene nicht zuletzt auch selbstironische Klarheit vonnöten, die Menschen wie Andrej Sacharow und Václav Havel ausgezeichnet habe.
Ohnehin gelte das, was Herlings Schwiegervater, der mussolini- und stalinkritische Philosoph Benedetto Croce, bereits 1946 festgestellt hatte: »die Nutzlosigkeit des Pessimismus«.
Binnen weniger Monate starben dann im Jahr 2000 Gustaw Herling und der Kultura-Chefredakteur Jerzy Giedroyc. Nichtjüdische und jüdische polnische Intellektuelle wie etwa der Publizist Adam Michnik beziehen sich noch heute auf das Lebenswerk dieser Jahrhundertzeugen, die bereits sehr frühzeitig vor Nationalismus und Antisemitismus gewarnt hatten.
lebensklugheit Was hinzukommt: Herlings Italien-Prosa, versammelt im Roman Die Insel und dem Erzählungsband Das venezianische Porträt, verzaubert noch immer mit kristallinem Stil und einer Lebensklugheit, die genau weiß, dass auch die elaborierteste politische Debatte nie und und nimmer das Letztgültige sein kann zur Erklärung unserer tragisch endlichen Existenz.
Obwohl sie dennoch unverzichtbar ist und ihr Fehlen höchstes Alarmsignal: Wo das freie Wort unterjocht wird, entstehen geradezu zwangsläufig Verhörzellen und Lager. Nichts haben Gustaw Herlings Bücher von ihrer Aktualität verloren.