Irgendwann reicht es, und man will nicht mehr Umgang mit jeder und jedem haben. Sich nicht mit diesen oder jenen abgeben. Zu nervenaufreibend, zu gefühls- und die Geduld strapazierend.
Erst recht, wenn die Beziehung einseitig ist. Man wählt seine Freunde nach einem bestimmten Kriterium aus: Sie tun einem gut. Daher verbringt man mit ihnen mehr Zeit. Man frisst miteinander. Man krault einander. Man entlaust sich. Jedenfalls machen es so, das zeigte gerade eine Studie im Wissenschaftsmagazin »Science« auf, männliche Schimpansen.
Pendant Freunde sind die essenziellen Bezugspersonen außerhalb der Familie, manchmal auch anstelle der Familie. Das Pendant können alle sofort benennen, die auch nur einmal einen älteren deutschen TV-Krimi sahen: Feinde. Denn damals fragten die Polizisten noch: »Hatte der Tote Feinde?« So lag für Isaac Bashevis Singer die Titelfindung seines 1966 erschienenen Romans Sonim, di Geschichte fun a Liebe auf der Hand. 1974 folgte die deutsche Übersetzung treu dem scheinbaren Widersinn: Feinde. Die Geschichte einer Liebe.
Konrad Adenauer brachte dieses Gespinst von Zuneigung, Ferne, Nähe und Unterstützung auf eine prägnante Formel. Einem Journalisten sagte der Langzeit-Bundeskanzler: »Freundschaft entsteht aus einer Harmonie in den beidseitigen Überzeugungen und aus dem Vertrauen, das man gewinnt.« Das war der Schlüssel für seine Freundschaft mit David Ben Gurion. Und es war tatsächlich eine, wie Michael Borchard aufzeigt.
Schwerpunkt Durchaus einen Schwerpunkt im diesjährigen Jüdischen Almanach bilden Aufsätze über Politikerfreundschaften, von Menachem Begin und Sadat, von Abraham Heschel und Martin Luther King und von Adenauer und Ben Gurion. Obschon die Beziehungen im Grunde in Anführungszeichen zu setzen sind. Sorgsam wird das Pas de deux zwischen multiplen Polen – Diplomatie, Respekt, Eigennutz, nationalpolitischer Selbstsinn, innenpolitisches Hickhack, persönliche Zuneigung und Widerstand hartnäckiger Visionsopponenten – ausgelotet.
Ein aktuelleres Thema hätte Gisela Dachs kaum finden können als eben: Freundschaft und Feindschaft. Denn das ist seit dem Juristen Carl Schmitt, dem Rechts-Extremisten, eine klassische Konstellation. Tritt man auch nur einen Schritt zurück, hat es genau mit jenem zu tun, was die wieder einmal thematisch rührige Journalistin Gisela Dachs, die seit einem Vierteljahrhundert in Israel lebt, erst in Jerusalem, heute in Tel Aviv, in ihrem Geleitwort erwähnt – mit Sehen. Und mit Wahrgenommenwerden. Freund, Feind und das breite graue Feld dazwischen: Das ist entscheidend ein Akt der Fremdwahrnehmung und der Eigeneinstufung, von Grenzen wie von Trennendem, von Sympathie wie von Ablehnung, feiner Zuwendung oder krasser Verweigerung.
Bonmot Dass es auch manchmal literaturantiquarisch zugeht im Jüdischen Almanach, das zeigt Andree Michaelis-König in seiner Schilderung des leidenschaftlich böswilligen Literaturstreits zwischen den Dichtern Heinrich Heine und August von Platen in den Jahren ab 1827. Dieser Disput folgte dem 100 Jahre jüngeren Bonmot des Wieners Anton Kuh: »Nur nicht gleich sachlich werden! Es geht ja auch persönlich«. Zieh doch der eine den Juden einen »Juden« und diffamierte der andere den Homosexuellen als »homosexuell«. Am Ende waren beider Reputationen ramponiert, Sieger gab es keinen.
Schön, dass auch hochkulturelle Nebenbezirke beharkt werden, die Feinde in jüngeren israelischen TV-Serien beispielsweise, der Fußball – die Duelle der »Erzrivalen« Makkabi und Hapoel – oder der im Alter unsägliche deutsche Freundfeind-Dichter Günter Grass, persona non grata in Israel. Eva Gesine Baur, die Biografin Marlene Dietrichs, lässt deren jüdische Freundschaftsgefährten vorbeipromenieren.
Und der Tel Aviver Soziologe Natan Sznaider grübelt über das Sujet »Von wem reden und theoretisieren wir also, wenn wir über Juden sprechen und nachdenken?« nach und darüber, wie viel Distanz leidenschaftslose Wissenschaft und Antisemitismusforschung an den Tag legen soll und darf. Um zwischen Freund und Feind zu scheiden.
Gisela Dachs (Hrsg.): »Freundschaften Feindschaften«. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Institute. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 248 S., 22,70 €