Wenn Jürgen Elsässer, Chefredakteur des Compact-Magazins, und seine Mitstreiter Ken Jebsen und Andreas Popp auf den Kundgebungen der »neuen Friedensbewegung« offen davon reden, eine kleine Minderheit beute 99 Prozent der Menschen aus, und für alle Kriege seien die Rothschilds verantwortlich, Gestalten ohne Bindung an ein Heimatland, die »nur einem einzigen Götzen, nämlich dem kalten Mammon« huldigen, dann können sie sich bei Martin Walser bedanken.
»Walsers Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche 1998«, schreibt Samuel Salzborn, markierte einen Bruch. Walser sprach von der »Moralkeule« Auschwitz, von der »Routine des Beschuldigens«, und kündigte damit einen Konsens auf: dass antisemitische Positionen in der Bundesrepublik nicht offen ausgesprochen werden. Nach Walser änderte sich das: »Seitdem werden antisemitische Positionen wieder offen vertreten. Walser zeigte, das man das tun kann, ohne sanktioniert zu werden, und seine Botschaft kam an«, so Salzborn.
Varianten In der Folge nahm die Zahl der offen antisemitischen Briefe an den Zentralrat der Juden zu, oft unterschrieben mit dem vollen Namen der Absender. Auch in Leserbriefen und später in Onlineforen steht man seitdem immer offener zum Hass auf Juden.
Oft ist es nicht mehr der plump rassistische oder christliche Judenhass, der dabei zum Vorschein kommt, obwohl Naziparteien wie »Die Rechte« noch heute in ihrer Agitation das mittelalterliche Motiv der Juden als Brunnenvergifter bemühen, sondern es ist der Vorwurf, die Juden würden die Weltherrschaft anstreben: »Das ist ein altes antisemitisches Bild, es kommt in allen Formen des Antisemitismus vor.«
Salzborn, Politikwissenschaftler an der Universität Göttingen, analysiert in seinem neuesten Buch die verschiedenen Varianten des Antisemitismus: den christlichen, den rassistischen, den antikapitalistischen und den heute bedeutendsten, den antizionistischen, der sich vor allem in der Verteufelung Israels zeigt: »Der rassistische Antisemitismus wird öffentlich sanktioniert, der, der sich als Antizionismus in Feindschaft zu Israel artikuliert, nicht.«
Statistik Über kein Land, so Salzborn, werde in Deutschland so ausgiebig und einseitig berichtet wie über Israel: »Schlägt ein israelischer Soldat in Gaza einen Jugendlichen, ist das eine große Geschichte – von der Tagesschau bis runter in die kleinste Lokalzeitung.«
Andere Themen, wie der ständige Beschuss des Landes durch Hamas-Raketen oder die Bedeutung Israels als Hightech-Standort, spielten kaum eine Rolle. Von rechts bis links – die Antisemiten aller politischen Lager sind in der Feindschaft zu Israel vereint und wissen breite Teile der Öffentlichkeit hinter sich: »Der israelbezogene Antisemitismus erreicht in Deutschland Zustimmungswerte bis zu 50 oder 60 Prozent.«
Da aber statistisch als antisemitisch nur gilt, wer mehreren Varianten des Antisemitismus deutlich zustimmt, liegt die Zahl der »harten« Antisemiten konstant bei 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Salzborn fordert deshalb, dass der Antisemitismusbegriff, der den Einstellungsuntersuchungen zugrunde liegt, überdacht wird. Die Wirklichkeit sei schlimmer, als es die Zahlen vermuten lassen.
Opfer Aber haben die Deutschen überhaupt noch ein Interesse an dem Thema? In seinem Buch geht Salzborn auf den neuen Opferkult in Deutschland ein: »In den vergangenen Jahren wurden große Teile der Täter-Generation zu Opfern stilisiert.
Die Klagen über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten oder den Einsatz alliierter Bomber ignorieren, dass die Maßnahmen nicht nur eine Reaktion auf die nationalsozialistische Politik, den Krieg und die Schoa waren, sondern dass der allergrößte Teil der vermeintlichen Opfer auch von dieser Politik profitierte.
Sicher, nicht alle waren in der SS, aber wenn es um geraubtes jüdisches Eigentum oder die Inbesitznahme einer Wohnung von ermordeten Juden ging, haben fast alle zugegriffen. Ging es darum, Juden vor den Nazis zu schützen, hielten sich wiederum fast alle zurück.«
Mit Parolen wie »Opa war in Ordnung« erfassen Geschichtsrevisionisten heute ein Gefühl, das weit verbreitet ist. Für den Politikwissenschaftler ist das einer der Punkte, an denen heute angesetzt werden muss: »Man hat das Gefühl, sich mit der NS-Zeit auseinandergesetzt zu haben, weil es eine gute Forschung gibt. Aber solange das nicht auch in den Familien aufgearbeitet wird, bleibt es eine Last. Diese Frage der Schuld muss man mit allen Schmerzen beantworten, sonst wird sie wieder an die nächste Generation weitergegeben.«
Samuel Salzborn: »Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie«. Nomos, Baden-Baden 2014, 211 S., 39 €