Literatur

Noch im Krakauer Ghetto gab der »Sänger der Not« den Unterdrückten eine Stimme

Leistete im Jahr 2018 Pionierarbeit: das Buch von Uwe von Seltmann über Mordechai Gebirtig

Seine Stücke waren auf Bühnen in Polen, aber auch in den USA und Israel erfolgreich. Mordechai Gebirtig, der Autor der jiddischen Gedichte und Lieder, war hingegen nur wenigen bekannt. In seinen letzten Lebensjahren gab er im Krakauer Ghetto den Unterdrückten eine Stimme. Vor 80 Jahren, am 4. Juni 1942, wurde Gebirtig von Soldaten des NS-Regimes erschossen.

»Für mich ist immer wieder faszinierend, wie nahe Gebirtig an, bei und mit den Menschen war«, sagt der Autor der deutschsprachigen Gebirtig-Biografie, Uwe von Seltmann. Er habe sich als »Sänger der Not« gesehen, der den Armen, Rechtlosen und Ausgestoßenen seine Stimme verleihen wollte. In den sogenannten Ghetto-Liedern habe Gebirtig zum entschlossenen Widerstand aufgerufen. Zugleich habe er seine Leidensgenossen zu Hoffnung und Zuversicht ermutigt.

Gebirtig sei ein »unbekannter Superstar«, sagt sein Biograph Uwe von Seltmann

Obwohl sich seine Lieder seit den 20er-Jahren in der gesamten jüdischen Welt verbreitet hätten, sei Gebirtig ein »unbekannter Superstar«, sagt Seltmann. Bis heute seien viele seiner Lieder und Gedichte jedoch nur einer kleinen Leserschaft zugänglich, die der jiddischen Sprache mächtig sei, beklagt der Biograf.

Volksmusik Viele der Stücke seien zu Volksliedern geworden, ohne dass der Verfasser immer bekannt gewesen wäre, erklärte auch der Baseler Historiker Heiko Haumann, Autor des Standardwerkes »Geschichte der Ostjuden«. Das US-amerikanische Milken-Archiv über jüdische Musik nennt Gebirtig einen »Titan der jüdischen Volksmusik« und bezeichnet ihn als den »wichtigsten, meistgesungenen, fruchtbarsten und berühmtesten Komponisten seiner Zeit«.

»Meine Lieder sind auf vielen Lippen«, hatte Gebirtig einmal in einem Gespräch mit einem Journalisten gesagt. Künstler verdienten viel Geld mit ihnen, in Amerika verkauften sich sogar Tausende Schallplatten mit den Liedern. »Aber mir ist es oft beschert, dass ich ohne einen Groschen bin - ich habe kein kaufmännisches Talent.«

Der Tischler und Dichter Mordechai Gebirtig hat 168 Lieder und Gedichte hinterlassen. Zu Klassikern geworden sind Lieder wie »Avreml der Marvikher« (Avreml, der Halunke) oder »Kinder-Yorn« (Kinderjahre). Einige seiner Werke gehören auch heute zum Repertoire von Musikern wie Daniel Kahn oder Wolf Biermann.

Krakau Der vermutlich am 5. März 1877 geborene Künstler lebte, ohne die Stadt Krakau zu verlassen, in drei Staatsgebilden: in der österreichisch-ungarischen Monarchie, in der von 1918 bis 1939 wiedererstandenen polnischen Republik und schließlich bis zu seiner Ermordung unter deutscher Besatzung.

Aufgewachsen in einer jüdischen Tagelöhner- und Kleinhändlerfamilie im Krakauer Judenviertel Kazimierz entschied sich Gebirtig gegen die strenggläubige Tradition seiner Eltern. Er war aktiv im jüdischen Arbeiterbund und Gast in literarischen und künstlerischen Gesellschaften Krakaus, wo er seine neuen Lieder vortrug.

In seinem wohl bekanntesten Stück »Es brennt« erwies sich Gebirtig als Prophet des späteren Nazi-Terrors.

In seinem wohl bekanntesten Stück »Es brennt« erwies sich Gebirtig als Prophet des späteren Nazi-Terrors: »Und ihr steht und guckt und gafft nur, mit verschränkten Händ/und ihr steht und gafft nur, unser Städtchen brennt«, heißt es in dem vermutlich bereits 1936 entstandenen Lied. Anlass waren Pogrome gegen Juden in der nahe Warschau gelegenen polnischen Kleinstadt Przytyk.

Krieg Die Anti-Kriegs-Gedichte Gebirtigs seien angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine »brandaktuell«, sagt Seltmann, der als einer der führenden Gebirtig-Experten gilt. Gebirtig sei als Mitglied der jüdischen Arbeiterbewegung, die sich als international verstand, ein überzeugter Pazifist gewesen. Für ihn habe der Krieg deutlich gemacht: Der Mensch sei ein Mörder und er bleibe ein Mörder. In ihm fließe nur das Blut Kains, des nach der biblischen Tradition ersten Mörders der Weltgeschichte.

Im Dezember 1940 musste Gebirtig seine Wohnung verlassen, 1942 wurde er mit seiner Frau und zweien seiner drei Töchter in das abgeriegelte Krakauer Ghetto eingewiesen. Sein letztes Lied, das er wenige Tage vor seinem Tod verfasste, trägt den Titel »S’iz gut« (Es ist gut). Gebirtig sah das Ende des deutschen Feindes voraus, der halb Europa zerstört hatte. Dass das nationalsozialistische Deutschland dann drei Jahre später, am 8. Mai 1945, kapitulierte, sollte Gebirtig nicht mehr erleben.

Ende Mai 1942 bereiteten deutsche Soldaten eine großangelegte Deportation vor. Die Krakauer Juden mussten sich in Kolonnen aufstellen, bevor sie zu den wartenden Viehwaggons getrieben wurden.

Noch auf dem Weg wurde Gebirtig von einem Soldaten erschossen. Auch Gebirtigs Frau und Töchter haben die Nazi-Gräuel nicht überlebt.

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 20. Februar bis zum 27. Februar

 21.02.2025

Berlinale

»Das verdient kein öffentliches Geld«

Der Berliner CDU-Fraktionschef Dirk Stettner hat seine Karte für die Abschlussgala zerrissen – und will die Förderung für das Filmfestival streichen

von Ayala Goldmann  21.02.2025

Bayern

NS-Raubkunst: Zentralrat fordert schnelle Aufklärung

Der Zentralrat der Juden verlangt von den Verantwortlichen im Freistaat, die in der »Süddeutschen Zeitung« erhobenen Vorwürfe schnell zu klären

 20.02.2025

Kolumne

Unentschlossen vor der Wahl? Sie sind in guter Gesellschaft – mit Maimonides

Der jüdische Weise befasste sich mit der Frage: Sollten wir als Kopfmenschen mit all unserem Wissen auch bei Lebensentscheidendem dem Instinkt vertrauen?

von Maria Ossowski  20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

NS-Unrecht

Jüdische Erben: »Bayern hat uns betrogen« - Claims Conference spricht von »Vertrauensbruch«

Laut »Süddeutscher Zeitung« ist der Freistaat im Besitz von 200 eindeutig als NS-Raubkunst identifizierten Kunstwerken, hat dies der Öffentlichkeit aber jahrelang verheimlicht

von Michael Thaidigsmann  20.02.2025

Literatur

»Die Mazze-Packung kreiste wie ein Joint«

Jakob Heins neuer Roman handelt von einer berauschenden Idee in der DDR. Ein Gespräch über Cannabis, schreibende Ärzte und jüdischen Schinken

von Katrin Richter  20.02.2025

Berlinale

Auseinandergerissen

Sternstunde des Kinos: Eine Doku widmet sich David Cunio, der am 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt wurde, und seinem Zwillingsbruder Eitan, der in Israel auf ihn wartet

von Ayala Goldmann, Katrin Richter  19.02.2025

Berlin

»Sind enttäuscht« - Berlinale äußert sich zu Antisemitismus-Skandal

»Beiträge, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, überschreiten in Deutschland und auf der Berlinale eine rote Linie«, heißt es in einer Erklärung des Festivals

von Imanuel Marcus  19.02.2025