Ist »Noah« die literarische Abbitte für »Stella«? Mit seinem Roman über die jüdische Gestapo-Greiferin, die ihr eigenes Leben rettete, in dem sie untergetauchte Juden an die Gestapo verriet, hatte Takis Würger neben viel Zustimmung bei den Lesern auch viel Kritik vom Feuilleton auf sich gezogen. In »Noah« erzählt er nun erneut eine Lebensgeschichte, doch diesmal lässt er vor allem den jungen Zionisten und Auschwitz-Häftling Noah Klieger zu Wort kommen.
Der in Straßburg geborene Klieger schloss sich bereits als 13-Jähriger einer Untergrundgruppe in Belgien an, die jüdische Kinder außer Landes schmuggeln wollte. Kurz bevor er selbst das Land verlassen wollte, wurde er im Alter von 16 Jahren verhaftet, wurde nach Auschwitz deportiert und wurde dort Mitglied der Box-Staffel – obwohl er gar kein Boxer war. Aber die Extra-Suppe, die die Boxer erhielten, bot eine kleine zusätzliche Chance zum Überleben. Das war die dreifach gebrochene Nase wert.
Klieger überlebte Auschwitz, er überlebte die Todesmärsche und zwei weitere Lager. Er war an Bord der »Exodus«, wurde in Israel ein bekannter Sportjournalist und sagte als Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess aus. Nach Auschwitz fuhr er immer wieder, als Zeitzeuge, zu den großen Jahrestagen, an denen die Zahl der Überlebenden von Jahr zu Jahr schrumpft. Auch Klieger ist nun nicht mehr dabei: Er starb 2018 im Alter von 93 Jahren.
Eine dramatische Lebensgeschichte also, die in dem Würgers gut 180 Seiten umfassendem Buch auf etwa 150 Seiten geschildert wird und sich auf die Erfahrungen im Krieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit konzentriert. Seine Stärken hat »Noah« da, wo Würger ihn einfach erzählen lässt. »Von einem, der überlebte«, heißt der Untertitel und Würger hat sich, so erläutert er im Nachwort, zweieinhalb Monate lang mit Klieger über dessen Leben unterhalten.
Manche Überlebenden von Auschwitz waren ihr Leben lang in der Vergangenheit gefangen. Andere haben unterschiedliche Wege gefunden, mit dem Erlebten umzugehen – die einen haben jahrzehntelang geschwiegen, die anderen sprachen, immer wieder, mit jedem, der ihre Geschichte hören wollte, sahen ihre Aufgabe als Zeitzeugen auch in der Verantwortung gegenüber all den Toten, die nicht in Vergessenheit geraten sollten.
Noah Klieger war einer von denen, die geredet haben. Die knappen, lakonischen Sätze über die Zeit im Lager, über Erschossene und Vergaste, über Menschen, die in den Elektrozaun fassten, über Schmuggel und Arbeit, Krankheiten und den allgegenwärtigen Hunger erinnern in ihrer präzisen, unsentimentalen Art an die Berichte vieler Zeitzeugen, die immer wieder vor Schulklassen und Politikern reden, erinnern, mahnen.
Die im Buch geschilderte Geschichte über den Kaddisch, den die Überlebenden des Todesmarsche sitzend und auf gefrorenen Leichen beteten, hat Klieger etwa auch den Abgeordneten der israelischen Knesset erzählt, als diese vor einigen Jahren am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz das ehemalige Vernichtungslager besuchten.
Wenn dann Sätze von sternenklaren Nächten und gesummten Rigoletto-Arien eingeschoben werden, dann zeigt sich hingegen die Handschrift des Autors. Details wie diese sollen vielleicht Atmosphäre schaffen, wie in einer preiswürdigen Reportage – für die Eindringlichkeit der Aussagen Kliegers sind sie unerheblich.
Für den Leser dürfte letztlich auch die Klärung von Unterschieden aus den Erzählungen Kliegers und den Daten etwa der Dokumentationsstätte Yad Vashem unerheblich sein – in welchem Jahr kam Klieger nach Auschwitz, wie lange genau war er dort Häftling?
In einer Zeit, da die Stimmen der Zeitzeugen, die noch von Auschwitz und von der Schoah berichten können, sehr klein geworden ist, ist die Überlebensgeschichte des Noah Klieger ein Weg, um an die Vergangenheit zu erinnern. Im Nachwort schreibt seine Nichte: »Dass dieses Buch existiert, bedeutet für mich, dass seine lebenslange Arbeit, seine Mission, den jüngeren Generationen von den Ereignissen während des Holocaust zu erzählen, fortgesetzt wird.«
Takis Würger: «Noah. Von einem, der überlebte». Penguin, München 2021, 188 S., 20 €