Interview

»Niemand hat BDS bestellt«

Kulturstaatsministerin Claudia Roth über die Antisemitismus-Skandale bei der documenta, Israel-Boykotte und eigene Fehler

von Ayala Goldmann, Philipp Peyman Engel  09.02.2023 07:24 Uhr

»Ich stelle mich der Kritik«: Kulturstaatsministerin und Grünen-Politikerin Claudia Roth (67) beim Interview in Berlin Foto: Marco Limberg

Kulturstaatsministerin Claudia Roth über die Antisemitismus-Skandale bei der documenta, Israel-Boykotte und eigene Fehler

von Ayala Goldmann, Philipp Peyman Engel  09.02.2023 07:24 Uhr

Frau Roth, seit der documenta ist das Verhältnis zwischen Ihnen und der jüdischen Gemeinschaft schwer belastet. Bundespräsident Steinmeier hat bei der Eröffnung im Juni 2022 klare Worte gegen den Antisemitismus auf der Kunstschau gefunden. Sie hingegen haben zuvor gesagt: »Das wird eine neue, sehr provokative, auflösende Form von Kunst und Kultur sein.« Ist der Kampf gegen Antisemitismus in Ihrer Behörde mittlerweile Chefsache?
Ich habe den herzlichsten Wunsch und das allergrößte Interesse, dass es ein enges und ein vertrauensvolles Verhältnis gibt zwischen der Kulturstaatsministerin wie auch der Person Claudia Roth und den Jüdinnen und Juden in unserem Land. Ich bin und war auch im ganzen letzten Jahr immer in einem engen Austausch mit jüdischen Freunden und Freundinnen. Mein ganzes politisches Leben hatte ein ganz großes Ziel, und das hat mir mein Vater so weitergegeben: Der moralische Imperativ unseres Grundgesetzes – die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich bin in Babenhausen, nicht weit weg von Dachau, aufgewachsen, und die Besuche in der KZ-Gedenkstätte als sehr junger Mensch mit den Eltern haben mich für mein ganzes Leben geprägt. Antisemitismus ist ein Angriff auf die Menschenwürde. Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine politische und eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.

Aber hätten Sie nicht genau deshalb schon lange vor Eröffnung der documenta Stellung beziehen müssen gegen den bewussten Ausschluss jüdischer Israelis und die große Nähe der Kuratoren zur antisemitischen Boykott-Bewegung BDS?
Bis zur Eröffnung waren es zunächst ja nur Vermutungen. Aber auch die ersten Befürchtungen habe ich sehr ernst genommen und gleich nach deren Aufkommen am Anfang des vergangenen Jahres ein begleitendes Expertengremium vorgeschlagen. Es kam dann erst viel später – und zu spät. Diese Entscheidung habe ich nicht zu verantworten, sondern die Träger der documenta. Ich bin nach Kassel gefahren, habe die Befürchtungen dort klar angesprochen, und mir wurde von allen Seiten – Geschäftsführung und ruangrupa – versichert, es werde keinen Antisemitismus und keine antisemitische Bildsprache geben. Jetzt können Sie natürlich sagen: Wie kann man so gutgläubig sein. Aber ich sage Ihnen auch: Bis zur Eröffnung war niemandem, auch nicht dem Bundespräsidenten, bewusst, dass vor dem Haus, wo er seine Rede gehalten hat, dieses Banner mit antisemitischer Bildsprache hing.

Am Tag der Eröffnung reden wir ja noch nicht von Taring Padis Gemälde. Der Bundespräsident sagte: »Es fällt auf, wenn auf dieser bedeutenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind.« Das allein als Befund hätte doch schon ausgereicht, als Deutschlands führende und wichtigste Kulturpolitikerin das Wort zu ergreifen.
Nochmals: Ich habe diese Themen seit Januar angesprochen. Vielleicht hätte ich noch lauter sein können und müssen, ja. Dieser Kritik stelle ich mich. Ich habe in den letzten Monaten viele Gespräche geführt, gerade auch mit dem Zentralrat und vielen anderen, und ein Ergebnis daraus ist: Wir müssen es noch mehr adressieren und noch ernster nehmen und wachsam sein in Bezug auf möglicherweise gezielte Nichteinladungen von israelischen jüdischen Künstlerinnen und Künstlern.

Genau davor hatte der Zentralrat der Juden doch mehrere Monate vor der documenta öffentlich und auch in Gesprächen mit Ihnen gewarnt – und wurde offenbar nicht gehört und nicht ernst genommen.
Der Zentralrat ist mein erster Ansprechpartner, wenn es um die Sorgen der Juden in Deutschland geht. Das war auch hier so. Wir haben auch durch unsere gemeinsame Presseerklärung versucht, das deutlich zu machen. Ich sage aber auch: Diese Gespräche miteinander müssen wir intensivieren. Denn viel wichtiger als eine Rückschau ist es jetzt doch, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Eine muss jedenfalls sein, dass es keine koordinierte Verantwortungslosigkeit geben kann, wie das bei dieser documenta der Fall war. Denn das habe ich im ganzen Verlauf erlebt: Niemand war verantwortlich. Ich fand die Grundidee zunächst spannend, aber man kann keine documenta machen mit einem kuratorischen Konzept, das auf Kuratieren verzichtet, sich der Verantwortung des Kurators nicht stellt. Und offensichtlich hätte man den Kollektiven aus verschiedenen Ländern auch klarmachen müssen: Antisemitismus ist ein globales Problem, er ist in Indonesien nicht weniger schlimm als in jedem anderen Land, und wir in Deutschland haben hier eine besondere Verantwortung, denn Auschwitz ist hier erfunden worden.

Gerade hat die documenta den Abschlussbericht des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung veröffentlicht. Dort heißt es: »Die zögerliche Reaktion der documenta auf Fälle von Antisemitismus war für jüdische Bürgerinnen und Organisationen verstörend. Antisemitische Vorfälle sind für Jüdinnen und Juden kein rein diskursives Phänomen, sondern sie bedrohen ihre gesellschaftliche Teilhabe, ihre Sicherheit und ihre Zukunft in Deutschland als Land der Schoa.« Wie wollen Sie Skandale wie bei der documenta fifteen künftig verhindern?
Es ist gut und wichtig, dass der Abschlussbericht dieser Expertenkommission jetzt vorliegt. Dieser zeigt sehr deutlich die Fehlentwicklungen auf, die zu diesem absolut inakzeptablen Ausstellen antisemitischer Bildsprache bei der documenta sowie dem Umgang damit geführt haben. Das hätte auf keinen Fall passieren dürfen. In unserem Grundgesetz ist der umfassende Schutzbereich der Kunstfreiheit fest verankert, dieser aber hat klare Grenzen, und da bin ich wieder bei Artikel 1 des Grundgesetzes, der Schutz der Menschenwürde. Und dann muss definiert werden: Was ist die Aufgabe des Staates, wo sind die Grenzen des Staates, wenn es um Kultur und um Ausstellungen geht, und wo liegt die Verantwortung? Was der Staat nicht kann, ist, eine Vorauswahl zu treffen oder bei einer Kunstproduktion vorab zu intervenieren, aber die Grenze muss immer bei Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus gezogen werden.

Sie haben im Januar erklärt, wenn der Bund sich finanziell an der documenta beteilige, müsse er auch Einfluss nehmen können. Was heißt das konkret? Das Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung bewertet es als problematisch, dass die Kulturstiftung des Bundes 2018 auf die Besetzung »ihrer« Sitze im Aufsichtsrat der documenta verzichtet hat: »Unabhängig von den Gründen für den Verzicht sollte die Kulturstiftung ihre Sitze wahrnehmen, denn im Aufsichtsrat fehlt im Moment eine gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Perspektive.«
Das reicht aus meiner Sicht nicht aus. Die Sitze wurden in der Zeit meiner Vorgängerin Monika Grütters niedergelegt, weil die Vertreter der Kulturstiftung des Bundes keinen wirklichen Einfluss nehmen konnten. Das war nicht ganz konsequent, weil sich der Bund trotzdem mit 3,5 Millionen Euro an der documenta fifteen beteiligt hat. Wir wollen nun anbieten, dass eine neue Struktur der documenta entsteht, eine Struktur, in der der Bund anders als bisher neben Stadt und Land auch Einfluss nehmen kann. Das Land Hessen hat ein großes Interesse daran signalisiert, dass der Bund dabei ist.

Ihr Parteifreund Volker Beck hat unlängst sinngemäß gesagt: Wer BDS bestellt, bekommt Antisemitismus geliefert. Was spricht dagegen, den Bundestagsbeschluss zur BDS-Bewegung von 2019 endlich umzusetzen?
Niemand hat BDS bestellt. Ich jedenfalls lehne den BDS sehr klar ab und habe das auch immer gesagt. Etwas anderes ist die Frage, ob der BDS-Beschluss das beste Mittel zur Bekämpfung des BDS ist. Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ganz unabhängig davon: Wenn die BDS-Bewegung versucht, bei Veranstaltungen zu mobilisieren und Teilnehmer unter Druck zu setzen, wie etwa beim Pop-Kultur-Festival in Berlin, weil die israelische Botschaft einer Teilnehmerin ein Ticket bezahlt hat, dann bin ich die Erste, die das deutlich anspricht und die Kultur gegen den BDS verteidigt.

Was kann an der Ächtung einer antisemitischen Bewegung denn falsch sein?
An der Ächtung von antisemitischen Tendenzen innerhalb und außerhalb der BDS-Bewegung ist nichts falsch, im Gegenteil, das ist richtig und notwendig. Schwieriger wird es aus meiner Sicht, Künstlerinnen, Künstler und Kulturschaffende, die zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal BDS-nahe Petitionen unterstützt haben oder dafür Sympathie gezeigt haben sollten, pauschal zu Antisemiten zu erklären. Da kommt es doch sehr darauf an, den Einzelfall genau zu betrachten und auch nicht ohne Weiteres Künstler und Kunst in einen Topf zu werfen, wie zum Beispiel bei Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux oder dem israelisch-britischen Architekten Eyal Weizman. In Bezug auf Weizman sagte Herr Schuster (der Präsident des Zentralrats der Juden, die Red.) jüngst, auch wenn dieser den BDS in der Vergangenheit einmal unterstützt habe, aber gleichzeitig ein künstlerisch interessantes Werk über den Anschlag in Hanau schaffe, was mit BDS nichts zu tun hat, sei das für ihn kein Grund, ihn von einer Förderung auszuschließen. Dem kann ich mich nur anschließen.

Roger Waters hat bei Konzerten Ballons in Schweineform aufsteigen lassen, die mit einem Davidstern bemalt sind. Anschließend wurden diese Ballons abgeschossen. Können Sie verstehen, warum sich Vertreter der jüdischen Gemeinschaft für eine Absage seiner Konzerte in Deutschland einsetzen? Wo ist Ihre Stimme zu dem Thema, das auch die Feuilletons sehr beschäftigt?
Ich bedauere außerordentlich die Entwicklung eines Musikers, der mit der Gruppe Pink Floyd für viele eine große Bedeutung hatte. Roger Waters ist mittlerweile offenkundig zu einem aktiven BDS-Unterstützer und darüber hinaus Verschwörungstheoretiker geworden. Als Kulturstaatsministerin kann und will ich kein Konzert verbieten. Nochmals: Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Deshalb würde ich mir wünschen, dass Veranstalter darauf verzichten, Konzerte mit Roger Waters durchzuführen, und wenn sie dennoch stattfinden sollten, dass er vor leeren Hallen spielt.

Zurück zu Ihrer Kommunikation: Vergangene Woche hat der Zentralrat der Juden kritisiert, wie über die Neubesetzung der Stelle der Antisemitismusbeauftragten in Ihrem Haus informiert wurde …
Ich fange mal ganz anders an. Ich würde mir wünschen, dass man sagt: Julia Yael Alfandari – wow! Was für eine megatolle junge jüdische Wissenschaftlerin, die viel Erfahrung in der Bekämpfung von Antisemitismus wie auch im Kunst- und Kulturbereich mitbringt und damit diesen Themenbereich in meiner Behörde stärkt. Frau Alfandari hat sehr wichtige Arbeit bei der documenta geleistet, und ich habe mich sehr gefreut, dass wir sie an einer sehr herausgehobenen Stelle einsetzen können. Wir stärken mit ihr die Position des Antisemitismusbeauftragten in unserem Haus. Das wird im Übrigen auch daran deutlich, dass sie zusätzlich noch auf der Leitungsebene verankert ist. Denn die Bekämpfung von Antisemitismus und Extremismus ist eine wichtige Querschnittsaufgabe für die ganze Behörde. Wenn es ein Problem in der Kommunikation gab, tut mir das leid, das war nicht unsere Absicht.

Was bedeutet der Name des Referatsbereichs Ihres Hauses »Kultur und Erinnerung in einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft«, wenn es um den Erhalt der KZ-Gedenkstätten geht – zum Beispiel von historischen Gebäuden in Dachau? Nach unseren Informationen gibt es hinsichtlich der Finanzierung von Gedenkstätten großen Unmut.
Seitdem ich Verantwortung trage, haben wir gemeinsam mit dem Bundestag zusätzliche Stellen und Mittel für die Gedenkstätten ermöglicht. In Dachau geht es gerade neben der so wichtigen inhaltlichen Arbeit auch um die Frage des Erhalts von Gebäuden. Das erfordert besonders große Summen, und für die wollen wir sowohl im Bundestag werben als auch gegenüber dem Freistaat Bayern.

Israel wird seit Januar von einer neuen, sehr rechtsgerichteten Regierung geführt. Wie wollen Sie der Gefahr begegnen, dass Boykott-Fans den Regierungswechsel in Jerusalem zum Anlass nehmen, um israelische und jüdische Künstler ins Abseits zu drängen?
Was die Zusammenarbeit mit israelischen Kulturschaffenden angeht, sei es mit Popmusikern, Filmemachern oder mit hervorragenden bildenden Künstlern wie Sigalit Landau: Jetzt erst recht!

Mit der Staatsministerin für Kultur und Medien sprachen Philipp Peyman Engel und Ayala Goldmann.

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