Vor 100 Jahren wurde in Frankfurt am Main das Institut für Sozialforschung gegründet. Diese Denkfabrik war insofern eine »jüdische« Institution, als beinahe alle ihre Mitarbeiter – Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Erich Fromm, Frieda Fromm-Reichmann, Max Horkheimer, Leo Löwenthal und später Herbert Marcuse – mehr oder minder assimilierten jüdischen Familien entstammten.
Was sie verband, war eine grundlegende, auf einem undogmatischen Marxismus sowie der Freudschen Psychoanalyse beruhende Gesellschaftskritik – die später sogenannte Kritische Theorie. Für sie ist das Institut bis heute bekannt.
gründer Minder bekannt ist, dass der Gründer des Instituts, Max Horkheimer, in seinen späten Jahren zu den bedeutendsten jüdischen Religionsphilosophen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gehört: in eine Reihe mit Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Margarete Susman und Leo Baeck.
Diese Einsicht ist dem neuen Buch der Literaturwissenschaftlerin Yael Kupferberg zu verdanken. In ihrer Monografie Zum Bilderverbot. Studien zum Judentum im späten Werk Max Horkheimers belegt sie dies akribisch. So zeichnet sie nach, wie Max Horkheimer, der noch vor dem Zweiten Weltkrieg in den Spuren Schopenhauers und Marx’ jede religiöse Anwandlung als unreif oder naiv gegenüber der Realität weltgeschichtlichen Leids kritisiert hatte, sich später der jüdischen Religion zuwandte und ebenjene Gefühle, die er vormals noch kritisierte, nämlich »Hoffnung« sowie »Sehnsucht nach einem ganz Anderen«, systematisch rehabilitierte.
So postulierte er das im jüdischen Glauben grundlegende »Bilderverbot« als Sinnbedingung eines jeden, die Welt zum Besseren verändernden Handelns. Mehr noch: Jüdisch sei, so Horkheimer nach dem Holocaust, die »Sehnsucht« danach, »dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge«. In seiner Schrift Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen aus dem Jahr 1970 gewinnt er damit eine praktische Transformation des jüdischen Glaubens.
sehnsucht Jüdisch sei dieser Glaube dann, wenn es dieser Sehnsucht nicht nur um individuelle Erlösung, sondern um die Rettung der Gemeinschaft geht. Zudem versuchte Horkheimer, diese menschliche Sehnsucht nach einem Anderen unter Rückgriff auf Immanuel Kant philosophisch zu begründen. Indem Horkheimer mit Kant jeden Gottesbeweis zurückweist, beharrt er zudem auf der prinzipiellen Fragwürdigkeit eines jeden verfestigten Gottesbegriffs, der sich schon deshalb widersprechen müsse, weil er doch nur Produkt der sich verselbstständigenden intellektuellen Funktionen des Subjekts sein kann.
Wahren Sprengstoff enthält Horkheimers Denken indes für den christlich-jüdischen Dialog. War er doch bereits in den 40er-Jahren – im Antisemitismuskapitel der »Dialektik der Aufklärung« – der Überzeugung, dass das Christentum Götzendienst und damit letztlich eine Ursache des Judenhasses sei.
Horkheimers Beharren auf der »Sehnsucht nach dem ganz Anderen« führte ihn zudem als ehemaligen Religionskritiker und Marxisten – bei aller Bejahung des Staates Israel als Refugium für bedrohte Juden – in grundsätzlichen Widerspruch zum Zionismus. So stand er dem Staat Israel, dessen nationaljüdischem Partikularismus wegen, mindestens skeptisch gegenüber: verheiße die Bibel doch, dass die Gerechten aller Völker nach Zion wallfahren werden.
existenz Vor allem aber sei mit dem Zionismus die Angleichung jüdischer Existenz an die Existenzweise aller anderen Völker verbunden – was letztlich nichts anderes als ein Verrat an der »Sehnsucht nach einem ganz Anderen« sei. Am Ende verbindet Horkheimer den jüdischen Gedanken einer nicht nur individuellen, sondern menschheitlichen Erlösung mit der Idee universaler Solidarität, die indes von der Erfahrung sinnloser Sterblichkeit motiviert ist. Diese begrifflich erfasste Erfahrung allein vermag es, einer auf Unterwerfung zielenden, totalen, verwalteten Welt noch einen letzten Widerstand entgegenzusetzen.
Yael Kupferberg ist es damit gelungen, den bisher vor allem als kritischen Marxisten bekannten Horkheimer in die Tradition deutsch-jüdischer Philosophie einzuordnen.
Yael Kupferberg: »Zum Bilderverbot. Studien zum Judentum im späten Werk Max Horkheimers«. Wallstein, Göttingen 2022, 207 S., 28 €