Frau Brett, dieser Tage erscheint bei Suhrkamp Ihr neues Buch »Immer noch New York«. Worum geht es darin?
Es ist ein sehr eigenwilliger Blick auf diese Stadt, in der ich seit mittlerweile 25 Jahren lebe und die ich liebe. Und es ist auch ein Blick auf mich selbst. Zu New York hat man eine Beziehung wie sonst nur zu Menschen. Man liebt die Stadt, man ist wütend auf sie, sie frustriert einen, man ist stolz auf sie. Es ist eine Beziehung wie zu einem Lover, einem Partner, einem Kind, Eltern.
Eine andere Stadt käme für Sie als Wohnort nicht infrage?
Nein, nie. Ich kann mich kurz in eine andere Stadt verlieben. Aber dann denke ich, nein, etwas Besseres als New York gibt es nicht. Ich mag alles an dieser Stadt. Selbst die Autoabgase und der Lärm machen mir nichts aus.
Was ist an New York so besonders?
Das Ungewöhnliche ist, dass man hier gut allein sein kann – und doch nicht isoliert ist. Schreiben ist naturgemäß eine einsame Tätigkeit. Aber wenn ich raus auf die Straße gehe, bin ich sofort wieder in die Welt einbezogen, in all meine kleinen Beziehungen: zum Drogisten um die Ecke, zum Schuhmacher oder zu den Leuten in der Reparaturschneiderei.
Das hat man in anderen Städten auch, wie Berlin beispielsweise. Was ist an New York so einzigartig, dass Sie Ihrer geliebten Stadt nie untreu geworden sind?
New York kann einen in den Wahnsinn treiben. Und das liebe ich. Hier geschieht ständig Unerwartetes. Man kann z20-mal dieselbe Straße entlanggehen, und jedes Mal hat sich irgendwas verändert. Zwei Wochen war man weg, und ein Haus ist verschwunden, das ewig dort stand. In dem Lebensmittelladen ist jetzt eine Parfümerie. Ständig entdeckt man etwas Neues, Faszinierendes. Kürzlich war ich nach dem Kino in einem kleinen Restaurant in SoHo. Irgendwie kam mir das Verhalten der anderen Gäste seltsam vor – bis ich merkte, dass dort gerade ein Speed-Dating-Abend stattfand. Wissen Sie, was Speed-Dating ist? Man hat sechs Minuten Zeit, sich mit jemandem zu unterhalten, dann geht’s zum nächsten potenziellen Partner, dann wird Pause gemacht, und alle holen sich Drinks an der Bar. Was mir auffiel, war, dass die Frauen sich viel besser zurechtgemacht hatten als die Männer. Männer glauben, dass, solange sie aufrecht gehen können, irgendeine Frau sie schon anziehend finden wird. In dem Restaurant war ich vorher bereits oft gewesen. Und jetzt entdeckte ich dort eine mir völlig neue Welt.
Sind Sie in New York auch jüdischer geworden?
New York ist ganz klar eine jüdische Stadt. Hier weiß jeder, ob Jude oder nicht, zum Beispiel, was Pessach ist. Fast alle Nichtjuden, die ich kenne, sind dann bei Freunden zum Seder. So gut wie alle wissen auch, wann Jom Kippur ist. Mein katholischer Bäcker um die Ecke hat zu mir gesagt: »An Jom Kippur ist immer gutes Wetter. Jedes Jahr.« Jiddische Begriffe gehören zum allgemeinen Wortschatz, sogar in Artikeln der New York Times tauchen sie auf. Das gefällt mir. Es gibt so etwas wie einen ständigen Dialog über Jüdischsein. Als ich aus Australien, wo der jüdische Bevölkerungsanteil vergleichsweise gering ist, nach New York gezogen bin, war das etwas, das mir sofort aufgefallen ist.
Was heißt es für Sie selbst eigentlich, jüdisch zu sein?
Zunächst mal: sich Sorgen zu machen. (lacht) Das ist das wichtigste Kriterium. Wer sich nicht ständig grämt, kann nicht wirklich jüdisch sein.
Und Lebensfreude? Ist das keine jüdische Eigenschaft?
Nein! Man kann doch nicht einfach Freude am Leben haben, wenn man im nächsten Moment tot umfallen könnte. (lacht)
Ich dachte immer, Schuldgefühle seien vor allem ein katholisches Phänomen. Wir Juden kennen doch keine Erbsünde.
Ja, aber Katholiken gehen zur Beichte, und dann ist alles gut. Wir Juden können nicht beichten. Ich glaube, Juden haben ein grundsätzliches Schuldgefühl. Schuldig wegen Sachen, derentwegen wir uns zu Recht schuldig fühlen sollten, und schuldig ebenso für Dinge, an denen wir überhaupt nicht schuld sind. Wahrscheinlich gibt es ein jüdisches Gen, das unsereins sich einfach ständig schuldig fühlen lässt. Kennen Sie den Witz mit dem jüdischen Telegramm? »Mach dir schon mal Sorgen. Einzelheiten folgen.« Der beste jüdische Witz, den ich kenne – genauer, der einzige, den ich mir merken kann. Und so lebensnah.
Sind Sie mit Schuldgefühlen groß geworden?
Natürlich! Beide Eltern haben die Schoa überlebt. Und raten Sie mal, wer aus meiner kindlichen Sicht ihnen das meiste Ungemach bereitet hat? Nicht Hitler, sondern ich! (lacht) Als Kind habe ich ernsthaft geglaubt, ich bringe mit meinem Verhalten meine Eltern um. Meine Mutter sagte immer wieder: »Du bringst mich noch ins Grab!« Als ich 30 wurde, war ich erstaunt, dass sie beide noch am Leben waren. (lacht)
Schuldgefühle hin oder her – Sie werden sich doch gelegentlich auch richtig toll fühlen?
Sicher, ich fühle mich oft toll. Zum Beispiel, wenn ich mit meiner jüngeren Tochter skype. Dann sehe ich sie an und denke: »Mein Gott, sie ist so hübsch!« Ich erlebe immer wieder glückliche Momente. Aber wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, ist meine spontane Antwort: »Okay«. Es ist nicht jüdisch, zu sagen: »Mir geht’s prima!«
Kann es sein, dass Ihr Verständnis von Jüdischsein geprägt ist durch die Tatsache, dass Ihre Eltern Schoa-Überlebende sind? Ich könnte mir vorstellen, dass amerikanische Juden Ihres Alters durchaus in der Lage sind zu sagen: »Mir geht’s prima!«
Ja, die können das leichter als ich. Trotzdem: Sehr jüdisch ist das nicht. In unserer Kultur fordert man sein Glück nicht heraus. Im Übrigen kann eigentlich niemand wirklich sagen, wie es ihm geht. Wir wissen es nicht. Ich nicht, Sie nicht. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich seit Jahrzehnten mit demselben Mann zusammen bin und dass ich ihn noch immer liebe; dass meine Kinder mich lieben und es zu was gebracht haben. Wenn mir etwas Gutes widerfährt – etwa, als ich von Suhrkamp vor ein paar Wochen erfuhr, dass dort im November auch ein Band mit meinen Gedichten erscheinen wird –, beobachte ich mich genau und werde nie hysterisch. Ich fahre meine Emotionen lieber herunter.
Sie haben Ihren Vater einmal als jemanden beschrieben, der gerne Schokolade isst, schöne Frauen mag …
... mit großen Brüsten …
Das scheint ihm sehr wichtig zu sein.
Unbedingt. Bis heute, obwohl er inzwischen 98 Jahre alt ist. Ich habe eine Freundin in meinem Alter, eine Schwarze mit sehr, sehr großen Brüsten. Wenn er sie trifft, schaut er ihr nicht ins Gesicht. Sein Blick geht deutlich tiefer.
Wie reagiert Ihre Freundin darauf?
Sie mag ihn sehr. Ich glaube, sie zieht sogar extra sexy Sachen an, wenn sie ihn besucht.
Sie haben ein sehr enges Verhältnis zu Ihrem Vater. War das immer schon so?
Mein Vater hat mich immer gemocht. Aber als ich noch zu Hause lebte, war er sehr streng. Wenn ich abends mal zu spät heimkam, beschimpfte er mich gleich als Prostituierte. Je älter ich werde, desto entspannter wird er. Nicht wegen meines zunehmenden Alters, denke ich, sondern weil das Leben für ihn nicht mehr so hart ist. Er musste jahrelang in einer Fabrik arbeiten, um uns durchzubringen. Und da war die Schoa. Meine Mutter war danach mit den Nerven spürbar am Ende. Mein Vater wirkte zwar nicht, als sei er psychisch fertig. Aber fünf Jahre Ghetto und ein Jahr Lager hinterlassen ihre Spuren. Das macht einen nicht zu einem ausgeglichenen, in sich ruhenden Menschen. Aber genau das ist mein Vater in den letzten Jahren geworden.
Sie sprachen vorhin davon, wie rasch sich in New York alles ändert. Wir sitzen hier im Café Dante in Greenwich Village, wo man Sie oft trifft. Auch hier hat sich einiges verändert.
Oh ja. In den späten 50er-Jahren war die Gegend hier das Zentrum der Beat Generation. Bob Dylan wohnte im Haus gegenüber. Im Café Dante hat sich diese Kultur erhalten bis heute. Es ist das Relikt einer anderen Ära. Hier sitzen immer noch Intellektuelle, die heftig über James Joyce diskutieren, statt darüber, wie viel sie verdienen oder nicht verdienen. Vor ein paar Jahren war das Dante zeitweilig wegen Renovierung geschlossen, und alle Stammkunden waren völlig fertig, weil sie nicht wussten, wohin. Wir haben damals ernsthaft debattiert, ob wir uns kollektiv ein neues Stammcafé suchen sollten, weil wir nicht sicher waren, ob das Dante wirklich wieder aufmachen würde.
New York ändert sich ständig, sagen Sie. Was ist mit Ihnen? Wie haben Sie sich in den vergangenen Jahren verändert?
Ich bin älter geworden. (lacht) Meine Kinder leben nicht mehr in New York. Das hat mein Leben stark verändert. Ich hänge sehr an meinen Kindern. Sie fehlen mir. Aber es ist für einen selbst sehr schwer festzustellen, ob und wie man sich verändert hat. In mancher Hinsicht, denke ich, habe ich mich überhaupt nicht verändert. Das liegt an New York. Die Stadt hält einen jung. Man kann sich hier nicht leisten, selbstgefällig und geistig träge zu werden, weil immer wieder etwas geschieht, das einem zeigt, dass man keine Ahnung hat.
Wir Juden haben gerade Rosch Haschana gefeiert. Was wünschen Sie sich persönlich für das neue Jahr 5775?
Dass ich mit dem Roman, an dem ich gerade sitze, weiter komme. Weltfrieden wäre auch schön, aber das übersteigt meine Fähigkeiten.
Lily Brett wurde 1946 im bayerischen DP-Lager Feldafing geboren. Ihre Eltern Max und Rose Brajsztajn waren Auschwitzüberlebende. 1948 wanderte die Familie nach Australien aus und ließ sich in Melbourne nieder. Mit 19 Jahren begann Lily Brett für ein Rockmagazin zu schreiben, für das sie unter anderem Jimi Hendrix und die Rolling Stones interviewte. 1986 erschien als erste Buchveröffentlichung der Gedichtband »Poland and other Poems«. 1989 zog Brett mit ihrem Ehemann, dem Maler David Rankin, nach New York City, wo sie seither lebt. In Deutschland wurde Lily Brett 1998 durch den Roman »Einfach so« bekannt. Ihr Roman »Chuzpe« (2006) wurde 2012 dramatisiert und an den Wiener Kammerspielen uraufgeführt. Ihr neues Buch »Immer noch New York« mit essayistischen Beobachtungen aus ihrer Wahlheimatstadt erscheint am 20. Oktober bei Suhrkamp (223 S., 19,95 €). Im November kommt dort auch Lily Bretts zweisprachiger deutsch-englischer Gedichtband »Wenn wir bleiben können« heraus. (120 S., 19,95 €)