Ein ganzes Leben reiche nicht aus, um nur eine Klaviersonate von Ludwig van Beethoven (1770-1827) zu erfassen, soll der Komponist Ferruccio Busoni gesagt haben.
Das mag übertrieben klingen. Für Igor Levit ist es jedenfalls so weit: Mit 32 Jahren legt der Pianist, der zu den Jungen unter den internationalen Klavierstars gehört, gleich Beethovens 32 Sonaten für Klavier als Gesamteinspielung vor. Pünktlich zum 250. Geburtstag des Komponisten im kommenden Jahr erscheint nun aus seinen Händen ein Schlüsselwerk der klassischen Musik – Beethoven pur auf neun CDs.
Opus Dass er ein solches Opus bereits in jungen Jahren stemmt, ist für Levit unwesentlich. »Die Altersfrage ist nicht wichtig«, sagt er. Auf dem Cover blickt er im braunen Pulli in die Kamera, zum Interview erscheint er im T-Shirt. Levit, der etwa auf dem Europa-Parteitag der Grünen Beethovens »Ode an die Freude« auf dem Klavier aufführte, ist alles andere als ein entrückter Piano-Nerd. Die »New York Times« nannte ihn einen Musiker für »polarisierte Zeiten«.
Igor Levit hält sich mit seinen Ansichten zum Leben und der Politik nicht zurück.
»Die Gesamtaufnahme war im Grunde immer mein Wunsch. Das ist die Musik, bei der ich mich am besten verstanden fühle. Beethoven habe sich über die Konventionen seiner Zeit hinweggesetzt, sein Werk sei immer auch »Zukunftsmusik«, sagt Levit im Booklet zu der CD-Box.
Puzzle Wie in einem Puzzle hat Levit die Aufnahmen der vergangenen Jahre im Historischen Reitstadel im oberpfälzischen Neumarkt, im Leibniz-Saal in Hannover und in der Berliner Siemens-Villa zusammengetragen.
Von Daniel Barenboim, Alfred Brendel oder Friedrich Gulda - an Zyklen der Beethoven-Sonaten fehlt es nicht. Ob romantisch gefärbt wie bei Barenboim, streng durchgezogen wie bei Brendel oder mit Guldas schwungvoller Lesart - das »Neue Testament« der Klaviermusik, wie es der Klaviervirtuose und Dirigent Hans von Bülow (1830-1894) nannte (das alte war für ihn Bachs »Wohltemperiertes Klavier«), fordert die Pianisten-Generationen immer wieder neu heraus.
Handschrift Levit verleiht dem Riesenwerk seine eigene Handschrift. Er blickt auf Beethoven wie auf einen Zeitgenossen. »Es sind alles sehr, sehr schwere Stücke, aber es ist meine Sicherheitszone, die Musik, von der ich mit verstanden und getragen fühle«, sagt er. Beethoven habe einen Zyklus geschaffen, »der soviel über uns Menschen erzählt, wie kein anderer«.
Levit tauchte als Jugendlicher in das Beethoven-Universum ein - mit dessen früher A-Dur-Sonate Opus 2/2. »Mein Lehrer Karl-Heinz Kämmerling hat mich - Gott sei Dank - damit nicht in Ruhe gelassen«. Immer wieder habe er daran arbeiten müssen, in jeder Unterrichtsstunde. »Ich kenne keinen 13-Jährigen, der Lust hat, jahrelang ein und dieselbe Sonate zu spielen. Doch dann geht es immer tiefer, je älter du wirst.«
Nischni Nowgorod Der im russischen Nischni Nowgorod geborene Pianist zog als Achtjähriger wegen seines musikalischen Talents mit seiner Familie nach Hannover. Bald eilte ihm der Ruf des Wunderkinds voraus, erste Lehrerin war seine Mutter Jelena Levit, eine Opern-Korrepetitorin. Sein Studium an der Hochschule in Hannover schloss er mit der höchsten Punktzahl ab, die dort jemals erreicht wurde.
Levit tauchte als Jugendlicher in das Beethoven-Universum ein.
Durchbruch Ein Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« verhalf ihm 2010 zum Durchbruch. Dort stand, dass Levit nicht nur das Zeug habe »einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts zu werden« - er sei es bereits. Auch international blieb das Lob nicht aus. Levit verbinde in seinem Klavierspiel »klanglichen Charme, intellektuellen Antrieb und technische Brillanz«, schrieb das US-Magazin »The New Yorker«.
Große Musiker zeichne aus, »dass sie etwas vom Leben verstehen«, stand auch in dem »FAZ«-Artikel. Levit jedenfalls hält sich mit seinen Ansichten zum Leben und der Politik nicht zurück.
Immer wieder bezieht er Stellung. »Bürger, Europäer, Pianist«, steht auf seiner Webseite. Der Pianist gehörte zu den ersten, die nach dem Antisemitismusskandal beim Echo-Preis um die Rapper Kollegah und Farid Bang die Auszeichnung zurückgab.
Der «Opus» dürfe weder Rassisten noch Sexualstraftäter auszeichnen, sagt Levit.
Echo-Debakel Er sei nun froh, dass die Klassik-Branche mit dem Opus-Preis, der am 13. Oktober in Berlin zum zweiten Mal verliehen wurde, die Konsequenzen aus dem Echo-Debakel gezogen hatten. Unabhängig vom Bundesverband Musikindustrie haben Plattenfirmen, Verlage und Veranstalter eine eigene Auszeichnung ins Leben gerufen. Doch auch der Opus dürfe weder Rassisten noch Sexualstraftäter auszeichnen, sagt Levit. »Da gibt es absolute Ausschlusskriterien.«
Levit weiß allerdings auch, dass nicht nur Rapper daneben greifen können - auch Klassikkünstler. »Wir sind auch nur Menschen, wir sind aber nicht besser, weil wir Beethoven lieben und sollten uns auch nicht so aufführen.«