Sehr geehrte Rabbinerinnen und Rabbiner,
ich weiß, Sie haben dieser Tage viel zu tun. Die Hohen Feiertage sind für Ihren Berufsstand, was Weihnachten für den Einzelhandel ist: purer Stress. Dennoch bitte ich Sie um fünf Minuten Ihrer Zeit.
Highlight Es geht um ein Grundsatzproblem: Ihre Predigten. Ich spreche hier für die große Masse der Gottesdienstbesucher, die Sie sonst nie in Ihren Synagogen sehen, die aber wenigstens zu Rosch Haschana und Jom Kippur den Weg zu Ihnen finden. Weil wir so selten beten gehen, ist der Synagogenbesuch für unsereins ein Highlight des Jahres. Und wir erhoffen uns davon etwas Besonderes, das wir sonst nicht erleben.
Im Prinzip funktioniert das auch. Man befindet sich in einer unbekannten Umgebung, stammelt sich stockend durch die wenig vertrauten Gebete und fühlt sich, nachdem das erste Befremden sich gelegt hat, auf angenehme Weise frei vom Alltag. Bis dann die Predigt kommt und einen rüde in die gewohnte Realität zurückreißt. Denn Sie, verehrte Rabbinerinnen und Rabbiner, pflegen oft Themen anzusprechen, mit denen die Gottesdienstteilnehmer bereits durch Zeitung, Fernsehen und soziale Medien ausgiebig bedient worden sind.
Klimadebatte Aktuell ist das gerade die Klimadebatte. Die Medien kennen kaum ein anderes Thema. Fridays for Future, Kohlendioxid und Greta – es gibt kein Entkommen. Es ist fast wie in dem alten DDR-Witz: »Ich schlag’ die Zeitung auf: Parteitag. Ich mach’ das Radio an: Parteitag. Ich mach’ den Fernseher an: Parteitag. Ich trau’ mich jetzt kaum, den Kühlschrank zu öffnen.«
Fridays for Future, Kohlendioxid und Greta – die Medien kennen kein anderes Thema.
Und ich trau’ mich kaum, an Ihre Predigten zu denken. Denn, da gehe ich jede Wette ein, genau über das Klima werden auch Sie reden, begründet mit weisen Worten aus Tora und Talmud plus viel Tikkun Olam. Ich weiß, Sie tun das, um gerade den sporadischen Besuchern vor Augen zu führen, wie nahe der Glaube am Alltag ist, möglicherweise in der Hoffnung, sie damit zu häufigerem Kommen zu animieren.
Und Sie können sich dabei auf rabbinische Autoritäten berufen. Rabbiner Samson Raphael Hirsch, der Vater der modernen Orthodoxie, hat den talmudischen Begriff »Tora im Derech Eretz« so ausgelegt, dass zu einem gottesfürchtigen Leben auch die Interaktion mit der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft gehört.
Gelegenheit Ich will Ihnen das auch überhaupt nicht madig machen. Rabbiner haben es nicht leicht. Die seltene Gelegenheit, sich mal 20 Minuten äußern zu können, ohne dass jemand dazwischenredet oder widerspricht, sei Ihnen herzlich gegönnt.
Als Journalist weiß ich zudem, dass Themenfindung ein mühsames Geschäft ist und man im Zweifelsfall am besten fährt, wenn man aufgreift, was ohnehin in aller Munde ist. Deshalb werde ich, auch wenn ich wenigstens an den Hohen Feiertagen gerne mal etwas anderes als Klima, Klima, Klima hören würde, selbstverständlich trotzdem in die Synagoge kommen.
Versprechen kann ich nur nicht, dass ich auch Ihrer Predigt mit der gebührenden Aufmerksamkeit folgen werde. Ich bitte dafür um Nachsicht – und wünsche Ihnen Schana towa.