Diesen Sommer wurde zum ersten Mal in der fast 70-jährigen Geschichte des Edinburgh Festivals eine Aufführung wegen politischen Drucks und Gewaltandrohungen abgesagt. Dutzende Demonstranten belagerten den Veranstaltungsort, wo ein Stück mit dem Titel The City auf dem Programm stand. Zeugen berichten, dass Demonstranten zwölf- und 14-jährige Kinder anbrüllten und beschimpften. Die Polizei erklärte, dass sie die Sicherheit der Schauspieler und des Publikums nicht gewährleisten könne.
ausladung Das Stück hatte keinen anstößigen Inhalt. Es rief nicht zum Hass auf. Es vertrat keine politische Richtung. Es handelte sich schlicht um ein neuartiges Musical mit einer altmodischen Krimihandlung. Die Demonstranten forderten seine Absetzung aus einem einzigen Grund: Die Theaterkompanie, die The City aufführen wollte, hatte etwas finanzielle Unterstützung von der israelischen Regierung erhalten.
Einen Monat später erklärte das Tricycle Theatre in London, dass das international renommierte »UK Jewish Film Festival« in seinen Räumen nicht länger willkommen sei. Warum? Weil die Veranstalter eine kleine Zuwendung – weniger als 1500 Pfund – von der israelischen Botschaft angenommen hatten. Keine der Zuwendungen war an irgendwelche politischen Bedingungen geknüpft gewesen. Aber der Bezug zu Israel reichte: Die Demonstranten traten auf, und der Vorhang blieb zu.
Als ich von der Tricycle-Ausladung hörte, wusste ich, dass ich das nicht einfach so stehen lassen konnte. Ein solches Verhalten ist inakzeptabel, und das habe ich den Direktoren des Theaters auch gesagt. Und ich bin froh, dass nach langen Diskussionen das Tricycle und das UK Jewish Film Festival ihre Differenzen beilegen konnten.
kampagne Diese eine Geschichte hatte ein Happy End. Aber das Problem geht anderswo weiter. Es gibt eine immer lautstarker werdende Kampagne für einen vollständigen kulturellen Boykott Israels.
Diese Kampagne lehne ich aus einem ganz einfachen Grund ab. Vorigen Monat war ich Gast einer Konferenz von Chefredakteuren britischer Zeitungen. Ich sprach dort über diverse Angriffe auf die Medienfreiheit, wie wir sie in letzter Zeit erlebt haben. Und ich sagte, dass für mich Pressefreiheit ein absoluter Wert ist, den man entweder hundertprozentig befürwortet oder gar nicht. Zu sagen: »Ich bin für Pressefreiheit, aber ...«, geht nicht.
Dasselbe gilt auch für Kunst und Kultur. Aber genau das bekommen wir zu hören: »Ich glaube an die Freiheit der Kunst, aber nur für Leute, deren politische Richtung ich teile.« »Ich glaube an die Freiheit der Kunst, aber nur, wenn Israel nicht dahintersteckt.« »Ich glaube an die Freiheit der Kunst, aber nicht für Juden.«
Um es deutlich zu sagen: Ich lehne Kunst- und Kulturboykotte ab. Denn Kultur ist mehr als Politik. Kultur soll über dem stehen, was uns trennt, und nicht benutzt werden, um Trennlinien zu ziehen. Kultur soll Verständigung fördern, nicht Hass schüren.
Wir müssen Künstler und ihre Werke nicht mögen. Wir müssen sie auch nicht fördern. Wir haben das Recht, friedlich gegen sie zu demonstrieren. Aber Künstler zum Schweigen zu bringen, ihnen die freie Meinungsäußerung zu verweigern – das ist schlicht unrecht.
Vor 100 Jahren nannte William Howard Taft den Antisemitismus ein »giftiges Unkraut«. Ein Jahrhundert später werde ich nicht mit ansehen, wie dieses giftige Unkraut Wurzeln im britischen Leben schlägt. Deshalb werde ich immer gegen Forderungen nach einem Boykott Israels aufstehen. Denn ich weiß, dass diese Forderungen nichts weiter sind als ein Vorwand, hinter dem sich der alte Judenhass verbirgt.
stolz Ich weiß selbst, was es heißt, mit Vorurteilen und Hass konfrontiert zu sein. So, wie ich aussehe, war das in den 70er-und 80er-Jahren, in denen ich groß wurde, unvermeidlich. Aber trotz allem, was ich erleben musste, habe ich nie versucht, zu verbergen, wer ich bin und woher ich stamme. Denn ich weiß, dass mein Hintergrund, meine Kultur, mein Erbe mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Deshalb habe ich beim diesjährigen Parteitag der Konservativen zu Anfang meiner Rede gesagt, dass ich stolz bin, Kind von Einwanderern zu sein. Denn das ist, wer ich bin. Das ist, was ich bin.
So war das auch für Yehudi Menuhin. Er wurde als Amerikaner geboren und starb als britischer Bürger. Aber sein ganzes Leben lang war er natürlich durch und durch jüdisch. Ich weiß, dass sein Vorname »Yehudi« hebräisch für »Jude« ist. Was ich vor Kurzem nicht wusste, war, wie er zu diesem Namen kam.
Kurz vor seiner Geburt waren Menuhins Eltern auf Wohnungssuche. Es war, glaube ich, in New York. Sie fanden, was sie für ihre Traumwohnung hielten, bis die Vermieterin, die wohl nicht wusste, wen sie vor sich hatte, fröhlich erklärte: »Es wird Sie sicher freuen, zu hören, dass ich an Juden nicht vermiete!«
Menuhins Eltern waren entsetzt, wenn auch leider nicht allzu überrascht. Aber sie waren stolze Menschen. Sie wollten sich, nicht verstecken, sie wollten nicht verleugnen, wer sie waren, sie wollten die Intoleranz anderer nicht einfach hinnehmen. Und so beschlossen sie genau in diesem Moment, ihrem noch ungeborenen Kind einen Namen zu geben, der seine Zugehörigkeit und seinen Glauben der ganzen Welt verkünden würde. Als ein paar Monate später ihr erster und einziger Sohn zur Welt kam, nannten sie ihn deshalb Yehudi – Jude. Als er, der wahrscheinlich größte Geiger aller Zeiten, später weltweit Konzerte gab, verkündete sein Name nicht nur wer, sondern auch was er war – auf Plakaten, Plattencovern und Programmheften. Er feierte sein Erbe, statt es zu verheimlichen – so, wie seine Eltern es gewollt hatten.
vielfalt 15 Jahre nach Menuhins Tod gibt uns sein Leben ein Beispiel, dem wir alle folgen sollten. Die britische Kultur basiert auf vielen Kulturen und Ideenwelten. Wir sollten stets stolz auf unsere Nationalität sein, aber uns nie unseres Hintergrunds schämen, ganz im Gegenteil. Das gilt für mich als Menschen asiatischer Herkunft ebenso wie für Sie als Juden.
Unsere Geschichte und Tradition macht uns zu dem, was wir sind. Sie formen und beeinflussen uns. Im Schmelztiegel des modernen Großbritannien können sie unglaubliche Kunst, Literatur und Musik hervorbringen, Werke, die widerspiegeln, wer wir sind, und der Welt etwas über uns mitteilen.
Deshalb sollten wir uns unter allen Umständen über Kunst und Kultur uneins sein, über sie streiten, diskutieren, sie anprangern oder verteidigen. Aber was immer wir von Künstlern und ihren Werken halten – nie dürfen wir zulassen, dass eine Politik der Vorurteile sie zum Schweigen bringt.
Sajid Javid wurde 1969 in Rochdale als Sohn eines eingewanderten pakistanischen Busfahrers geboren. Nach dem
Studium in Exeter arbeitete er im Finanzsektor, unter anderem als Direktor der britischen Niederlassung der Deutschen Bank. 2010 wurde er für die Konservativen ins Parlament gewählt. Seit April 2014 ist er Kulturminister im Kabinett von Premierminister David Cameron.
Auszüge aus einer Rede vor der »Union of Jewish Students« in London am 14. Dezember. Der volle Wortlaut auf Englisch ist abrufbar unter
www.gov.uk/government/speeches/sajid-javids-speech-at-the-union-of-jewish-students-annual-conference-2014