Man hört Gemurmel und klirrende Tassen an diesem Samstagmorgen im »Ottenthal« in Berlin-Wilmersdorf. Das Café am Ludwigkirchplatz ist voll. Draußen sitzen kann man im dunklen, kalten Berliner Winter nicht, bedauert Atina Grossmann: »Wenn man im Sommer hierherkommt, denkt man, man ist an einer belebten Ecke Tel Avivs.«
wilmersdorf Die amerikanische Historikerin hat hier, im Westen Berlins, eine Wohnung gekauft und knüpft damit an die Geschichte ihrer Familie und auch des Stadtteils an. »Alle aus meiner Familie lebten in Charlottenburg-Wilmersdorf.« Vor der Nazizeit war der Berliner Westen stark jüdisch geprägt. Inzwischen kehren Juden wieder zurück: »Ich kenne in dieser Straße immer mehr Israelis, die sich in den letzten zehn Jahren Wohnungen hier gekauft haben.« Der Edeka an der Ecke hat sogar eine koschere Abteilung.
Atina Grossmann ist Dozentin für Neuere Europäische Geschichte und Genderstudien am Cooper Union College in Manhattan, New York. Ihre Wurzeln hat sie in Deutschland; 1938 flüchteten ihre Eltern aus Berlin vor den Nazis. Nach einer Odyssee durch den Orient, einschließlich eines langjährigen Aufenthaltes im Iran, landeten sie in den USA und blieben dort. Atina Grossmann wuchs als New Yorkerin auf. »
Dort bin ich geboren, da kenne ich mich immer noch am allerbesten aus, und da sind auch meine Kinder aufgewachsen. Ich würde mich auch immer als New Yorkerin identifizieren.« Und doch ist Berlin für die 62-Jährige inzwischen ein zweites Zuhause: »Ich habe eine Wohnung in Wilmersdorf, liebe das Café am Ludwigkirchplatz, engagiere mich bei der Leo-Baeck-Sommer-Universität und bin jetzt im Beirat des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks.«
Seit ihrer Kindheit war Atina Grossmann immer wieder in Berlin. 1977 begann sie an der Freien Universität eine Studie über die deutsche Sexualreformbewegung 1920 bis 1950. »Berlin ist eine Stadt, in der mich Begegnungen mein Leben lang begleiten.«
genderstudien Von Begegnungen handelt auch Atina Grossmanns neues Buch Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Dort beschreibt sie, wie amerikanische Besatzer auf besiegte Deutsche und eine Viertelmillion Schoa-Überlebende in Displaced-Persons-Lagern trafen, nur drei Jahre, nachdem Goebbels Deutschland für »judenrein« erklärt hatte. Auf die Thematik war die Forscherin Anfang der 90er-Jahre bei einer Unterhaltung mit einer guten Freundin gekommen, deren Familie selbst in einem DP-Lager gewesen war. »Wenn du dich für die Geschichte der jüdischen Opfer und die Nachkriegsgeschichte interessierst – hier hast du doch schon dein Thema«, erinnert sich Grossmann an den Rat ihrer Freundin.
Die Materie ihres Buches geht Grossmann multidisziplinär an: Geschichtswissenschaft trifft auf Geschlechtersoziologie und jüdische Studien. Das gängige Geschichtsnarrativ stellt die Historikerin in ihrer Arbeit auf den Kopf: »Ich möchte in dem Buch deutlich machen, dass die Geschichten der Deutschen und Juden nach 1945 nicht isoliert voneinander stattfanden, auch wenn es häufig so erzählt wird.« Begegnungen der jüdischen Überlebenden mit Deutschen beschränkten sich nicht nur auf das Nötigste.
Anhand zahlreicher Quellen beschreibt die Autorin Momente des Umgangs miteinander, die zum Teil intimer kaum sein konnten. Ausführlich erzählt sie beispielsweise von jüdischen Frauen, die ihre nach dem Krieg geborenen Babys unter den prekären Umständen des Lagerlebens deutschen Kindermädchen anvertrauten. »Es waren handfeste deutsche Frauen, aus kleinen Orten, die wussten, wie man mit Babys umgeht«, erklärt Grossmann. »Und sie standen auch unter Bewachung – die Amerikaner waren ja als Besatzungsmacht da.«
Als einen weiteren zentralen Punkt thematisiert Grossmann auch eine Art von Opferkonkurrenz, mit der man im jungen Nachkriegsdeutschland permanent konfrontiert wurde. Die Deutschen fühlten sich als die Hauptopfer des Krieges – verraten von den Nazis, die ihnen eine bessere Welt versprochen hatten, besiegt von den Alliierten, und die deutschen Frauen vergewaltigt von den Russen.
Schuld, Empathie und Holocaust-Verantwortung waren in der deutschen Bevölkerung kaum ein Thema: »Die Frage nach Schuld war natürlich da, aber man lebte in der Gegenwart.« Und die meisten Juden in den DP-Lagern gingen nicht davon aus, dass sie in Deutschland bleiben würden. So arrangierte man sich. Die Themen Reproduktion und Sexualität, Geburt und Vergewaltigung sind im Buch allgegenwärtig: »Gender-Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Arbeit.«
zuwanderung Ein Freund Grossmanns betritt das Café Ottenthal. »Frank will arrive soon«, sagt sie ihm. Frank ist Atina Grossmanns Ehemann und arbeitet am Leo-Baeck-Institut in New York. Auch er ist Berliner Herkunft. Grossmann hält kurz inne und trinkt einen Schluck Kaffee, bevor sie erklärt, warum sie das Buch so geschrieben hat. »Ich möchte die Geschichte denen so zugänglich wie möglich machen, die es direkt oder indirekt betrifft« – nämlich den Juden, die nach 1945 in Deutschland geblieben sind, ihren Kindern und Kindeskindern, aber auch der neuen Generation der Juden aus der früheren UdSSR: »Ohne die Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion wäre in Deutschland nämlich gar nichts gelaufen.«
Das fasziniert die Amerikanerin auch an ihrer Arbeit für das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk (ELES), das begabte jüdische Studierende und Doktoranden in Deutschland finanziell unterstützt. »Für mich ist diese Arbeit extrem befriedigend und spannen, weil ich eben dadurch die Möglichkeit habe, mit dieser nächsten Generation von Juden in Deutschland zu arbeiten, die zum größten Teil aus der Sowjetunion stammt, sagt Atina Grossmann. Sie leert ihren Kaffee und lehnt sich in dem roten Sessel zurück, in dem sie sitzt. »Ich denke, dass diese Generation zu einer neuen Gestaltung des jüdischen Lebens in Deutschland beitragen wird – auch wenn man noch nicht ahnen kann, wie.«
Atina Grossmann: »Juden, Deutsche, Alliierte: Begegnungen im besetzten Deutschland«. Übersetzt von Axel Meier. Wallstein, Göttingen 2012, 472 S., 29,90 €