In den Jahrtausenden ihrer Geschichte sind die Juden zumeist auf Wanderschaft gewesen: von Süden nach Norden, als sie Jerusalem verlassen mussten und nach Europa kamen; später vom Rhein nach Polen und Russland, wo sie zu Ostjuden wurden; dann in umgekehrter Richtung über den deutschen Kulturraum bis nach Amerika, wo sie als Westjuden ihre moderne Gestalt angenommen haben.
Diesem späten, bis in die Gegenwart reichenden Teil jüdischer Wanderungen widmet Joachim Schlör den Band, den er in der von ihm herausgegeben Jüdischen Kulturgeschichte in der Moderne jetzt vorlegt. Er ist nicht nur Kulturwissenschaftler, sondern erforscht auch die Beziehungen von Juden und Nichtjuden und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität von Southampton. Da er zudem ein Germanist ist, kommt das reiche Quellenmaterial des Bandes aus dem deutschen Kulturraum, und damit ist der Interpretationsrahmen der in dem Band gesammelten Studien abgesteckt.
Die jüdischen Migrationen lassen sich negativ auslegen, und das ist lange geschehen: In den Augen christlicher Judenfeinde und moderner Antisemiten war der ewige, »wandernde« Jude ein gestrafter Gottesmörder, ein unzuverlässiger, vaterlandsloser Geselle. Im deutschen Kulturraum dagegen haben die Juden den Versuch unternommen, das Exil zu ihrer Heimat zu machen, und »Kultur« wurde dabei zu einem positiven Schlüsselbegriff. Schlör weist auf den zwar kurzlebigen, doch richtungsweisenden »Culturverein« hin, den Leopold Zunz im frühen 19. Jahrhundert gegründet hatte. Dort versuchten junge Juden – unter ihnen auch Heinrich Heine –, ihren Ort in einem noch gar nicht bestehenden Deutschland zu finden, und in diese Tradition stellt auch Schlör seine kulturwissenschaftlichen Analysen zur jüdischen Migration.
Der Autor ist nicht nur Kulturwissenschaftler, sondern erforscht auch die Beziehungen von Juden und Nichtjuden.
Das Studium der Kulturen geht von ihrer Vielfalt aus, von einer Offenheit der Welt, die sich in ihrem Reichtum darbietet. Und obwohl die Migrationen der Juden im 20. Jahrhundert von Wellen einer gegen sie gerichteten Gewalt ausgelöst wurden, hebt Schlör hervor, wie sehr sie die Horizonte der Migranten erweitert haben. »Weil die Emigranten von gestern nirgends zu Hause sind, sind sie überall zu Hause«, zitiert er den unter Hitler vertriebenen Journalisten Hans Habe. »Weil er mehr erfahren hat, weiß der Emigrant mehr.«
Diesem Lob der Emigration stehen freilich auch andere Aussagen gegenüber, und Schlör weiß, dass jede Migration immer eine dialektische Erfahrung ist. Die Studien des Bandes beleuchten sie aus den verschiedensten Perspektiven, und hier müssen wir uns mit einem einzigen Beispiel begnügen – mit den schönen Seiten, die Schlör im Kapitel »Jüdische Siedlungsformen« der Stadt Tel Aviv gewidmet hat. Während der Zionismus sich auf Zion bezieht, auf das biblische Jerusalem, wird Tel Aviv zu Beginn des 20. Jahrhunderts, lange vor der Staatsgründung, zur ersten israelischen Stadt. Alte Tradition und neuer Anfang stehen sich gegenüber, und mehr als das: Tel Aviv entsteht am Meer, ist der jüdische Gegenpart zum arabischen Jaffa, von dem es sich zu unterscheiden suchte.
Wiederum also Alt und Neu in der Gegenüberstellung, und das reicht tiefer, als der erste Blick zu erkennen gibt. Der Stadtname Tel Aviv geht auf den Titel zurück, den der Journalist Nachum Sokolow seiner hebräischen Übersetzung von Altneuland gegeben hat, Theodor Herzls letztem Roman. Er schrieb ihn, als er an seinem zionistischen Projekt schon verzweifelte und seine großen Hoffnungen wenigstens in einer Utopie festhalten wollte.
Utopien lassen sich nicht verwirklichen, aber es gibt keine jüdische Existenz ohne Hoffnung. Die Migration ist eines ihrer Grundelemente, und die berühmteste Wanderung der Juden findet gleich am Anfang statt. Sie führt durch die Wüste zum Berg Sinai, und dort erhalten sie ein Geschenk, das alle Jahrtausende überdauern wird.
Joachim Schlör: »Jüdische Migration und Mobilität. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Mit einem Geleitwort von Nicolas Berg«. Neofelis, Berlin 2024, 358 S., 29 €