Sachbuch

Neue Perspektiven auf ein altes Phänomen

Der Kulturwissenschaftler und Germanist Joachim Schlör untersucht jüdische Migrationsbewegungen

von Jakob Hessing  26.08.2024 17:21 Uhr

Der Kulturwissenschaftler und Germanist Joachim Schlör untersucht jüdische Migrationsbewegungen

von Jakob Hessing  26.08.2024 17:21 Uhr

In den Jahrtausenden ihrer Geschichte sind die Juden zumeist auf Wanderschaft gewesen: von Süden nach Norden, als sie Jerusalem verlassen mussten und nach Europa kamen; später vom Rhein nach Polen und Russland, wo sie zu Ostjuden wurden; dann in umgekehrter Richtung über den deutschen Kulturraum bis nach Amerika, wo sie als Westjuden ihre moderne Gestalt angenommen haben.

Diesem späten, bis in die Gegenwart reichenden Teil jüdischer Wanderungen widmet Joachim Schlör den Band, den er in der von ihm herausgegeben Jüdischen Kulturgeschichte in der Moderne jetzt vorlegt. Er ist nicht nur Kulturwissenschaftler, sondern erforscht auch die Beziehungen von Juden und Nichtjuden und lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität von Southampton. Da er zudem ein Germanist ist, kommt das reiche Quellenmaterial des Bandes aus dem deutschen Kulturraum, und damit ist der Interpretationsrahmen der in dem Band gesammelten Studien abgesteckt.

Die jüdischen Migrationen lassen sich negativ auslegen, und das ist lange geschehen: In den Augen christlicher Judenfeinde und moderner Antisemiten war der ewige, »wandernde« Jude ein gestrafter Gottesmörder, ein unzuverlässiger, vaterlandsloser Geselle. Im deutschen Kulturraum dagegen haben die Juden den Versuch unternommen, das Exil zu ihrer Heimat zu machen, und »Kultur« wurde dabei zu einem positiven Schlüsselbegriff. Schlör weist auf den zwar kurzlebigen, doch richtungsweisenden »Culturverein« hin, den Leopold Zunz im frühen 19. Jahrhundert gegründet hatte. Dort versuchten junge Juden – unter ihnen auch Heinrich Heine –, ihren Ort in einem noch gar nicht bestehenden Deutschland zu finden, und in diese Tradition stellt auch Schlör seine kulturwissenschaftlichen Analysen zur jüdischen Migration.

Der Autor ist nicht nur Kulturwissenschaftler, sondern erforscht auch die Beziehungen von Juden und Nichtjuden.

Das Studium der Kulturen geht von ihrer Vielfalt aus, von einer Offenheit der Welt, die sich in ihrem Reichtum darbietet. Und obwohl die Migrationen der Juden im 20. Jahrhundert von Wellen einer gegen sie gerichteten Gewalt ausgelöst wurden, hebt Schlör hervor, wie sehr sie die Horizonte der Migranten erweitert haben. »Weil die Emigranten von gestern nirgends zu Hause sind, sind sie überall zu Hause«, zitiert er den unter Hitler vertriebenen Journalisten Hans Habe. »Weil er mehr erfahren hat, weiß der Emigrant mehr.«

Diesem Lob der Emigration stehen freilich auch andere Aussagen gegenüber, und Schlör weiß, dass jede Migration immer eine dialektische Erfahrung ist. Die Studien des Bandes beleuchten sie aus den verschiedensten Perspektiven, und hier müssen wir uns mit einem einzigen Beispiel begnügen – mit den schönen Seiten, die Schlör im Kapitel »Jüdische Siedlungsformen« der Stadt Tel Aviv gewidmet hat. Während der Zionismus sich auf Zion bezieht, auf das biblische Jerusalem, wird Tel Aviv zu Beginn des 20. Jahrhunderts, lange vor der Staatsgründung, zur ersten israelischen Stadt. Alte Tradition und neuer Anfang stehen sich gegenüber, und mehr als das: Tel Aviv entsteht am Meer, ist der jüdische Gegenpart zum arabischen Jaffa, von dem es sich zu unterscheiden suchte.

Wiederum also Alt und Neu in der Gegenüberstellung, und das reicht tiefer, als der erste Blick zu erkennen gibt. Der Stadtname Tel Aviv geht auf den Titel zurück, den der Journalist Nachum Sokolow seiner hebräischen Übersetzung von Altneuland gegeben hat, Theodor Herzls letztem Roman. Er schrieb ihn, als er an seinem zionistischen Projekt schon verzweifelte und seine großen Hoffnungen wenigstens in einer Utopie festhalten wollte.

Utopien lassen sich nicht verwirklichen, aber es gibt keine jüdische Existenz ohne Hoffnung. Die Migration ist eines ihrer Grundelemente, und die berühmteste Wanderung der Juden findet gleich am Anfang statt. Sie führt durch die Wüste zum Berg Sinai, und dort erhalten sie ein Geschenk, das alle Jahrtausende überdauern wird.

Joachim Schlör: »Jüdische Migration und Mobilität. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Mit einem Geleitwort von Nicolas Berg«. Neofelis, Berlin 2024, 358 S., 29 €

Malerei

First Ladys der Abstraktion

Das Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden zeigt farbenfrohe Bilder jüdischer Künstlerinnen

von Dorothee Baer-Bogenschütz  14.01.2025

Leipzig

»War is over« im Capa-Haus

Das Capa-Haus war nach jahrzehntelangem Verfall durch eine bürgerschaftliche Initiative wiederentdeckt und saniert worden

 14.01.2025

Debatte

»Zur freien Rede gehört auch, die Argumente zu hören, die man für falsch hält«

In einem Meinungsstück in der »Welt« machte Elon Musk Wahlwerbung für die AfD. Jetzt meldet sich der Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner zu Wort

von Anna Ringle  13.01.2025

Krefeld

Gütliche Einigung über Campendonk-Gemälde

An der Einigung waren den Angaben nach die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), das Land NRW und die Kulturstiftung der Länder beteiligt

 13.01.2025

TV

Handgefertigte Erinnerung: Arte widmet Stolpersteinen eine Doku

Mehr als 100.000 Stolpersteine erinnern in 30 Ländern Europas an das Schicksal verfolgter Menschen im Zweiten Weltkrieg. Mit Entstehung und Zukunft des Kunstprojektes sowie dessen Hürden befasst sich ein Dokumentarfilm

von Wolfgang Wittenburg  13.01.2025

Mascha Kaléko

Großstadtdichterin mit sprühendem Witz

In den 20er-Jahren war Mascha Kaléko ein Star in Berlin. Die Nazis trieben sie ins Exil. Rund um ihren 50. Todestag erleben die Werke der jüdischen Dichterin eine Renaissance

von Christoph Arens  13.01.2025

Film

»Dude, wir sind Juden in einem Zug in Polen«

Bei den Oscar-Nominierungen darf man mit »A Real Pain« rechnen: Es handelt sich um eine Tragikomödie über das Erbe des Holocaust. Jesse Eisenberg und Kieran Culkin laufen zur Höchstform auf

von Lisa Forster  13.01.2025

Sehen!

»Shikun«

In Amos Gitais neuem Film bebt der geschichtsträchtige Beton zwischen gestern und heute

von Jens Balkenborg  12.01.2025

Omanut Zwillenberg-Förderpreis

Elianna Renner erhält Auszeichnung für jüdische Kunst

Die Schweizerin wird für ihre intensive Auseinandersetzung mit Geschichte, Biografie und Politik geehrt

 12.01.2025