Es gibt Ausstellungen, die man mehr als einmal sehen sollte. Auf Käthe-Kollwitz-Preis 2022. Nan Goldin in der Berliner Akademie der Künste trifft das unbedingt zu: Viele der Fotografien der amerikanisch-jüdischen Künstlerin aus fünf Jahrzehnte entfalten erst auf den zweiten Blick ihre subversive Wirkung.
Wie etwa »C. Putting on her Make-Up«, das Nan Goldin 1992 in Bangkok aufnahm. Es zeigt eine junge Frau, die sich sorgfältig vor einem Spiegel schminkt, und ist typisch für die Arbeitsweise von Goldin: Was zunächst wie ein Schnappschuss wirkt, ist (samt Schminkpalette und der Hand der Fotografin im Hintergrund) sorgfältig durchkomponiert.
SPIEGEL Viele der Bilder hätte außer Nan Goldin niemand so fotografieren können. Die 69-Jährige ist seit ihrer Jugend Teil der –damals noch nicht so genannten – queeren Community. Den Menschen auf ihren Bildern, darunter enge Freunde und Liebhaberinnen, ist anzumerken, dass sie der Fotografin vertrauen und wissen, dass sie auch in intimen Momenten nicht bloßgestellt werden. Wie bei dem neueren Bild »Thora at my Vanity« von 2021, das Goldins Freundin, die Schriftstellerin Thora Siemsen, an einem Waschtisch zeigt – sie betrachtet sich ebenfalls in einem Spiegel.
»Ihr Fokus liegt auf den Themen Liebe, Sexualität und Gewalt«, heißt es im Pressetext. Doch die Künstlerin darauf zu reduzieren, wäre angesichts der Bildauswahl in der Akademie der Künste nicht richtig; vieles wurde weggelassen. Einige Motive aus dem legendären Werk »The Ballad of Sexual Dependency« werden präsentiert – sowie Fotos von AIDS-Kranken und verschwommene Bilder, die Goldin offenbar unter Drogeneinfluss aufgenommen hat.
rückfall Die Künstlerin erlitt 2014 einen Opioid-Rückfall, als ihr nach einer Operation das Schmerzmittel OxyContin verschrieben wurde. Nach ihrem Entzug sagte Goldin dem US-Pharmakonzern, der das Mittel vermarktet hatte, auch im Film All the Beauty and the Bloodshed (ab 25. Mai in deutschen Kinos) den Kampf an.
Nan Goldins Fotografien wurden in den 70er- Jahren noch als Provokation empfunden – heute gelten sie und ihre Schöpferin als ikonisch.
Die Ausstellung läuft bis zum 19. März.