Angesichts des Debakels bei der documenta in Kassel ist die venezianische Kunstschau in den Hintergrund gerückt: Die 59. Biennale läuft seit Ende April und ist noch bis zum 27. November zu sehen. Offen antisemitische Hetzbilder findet man hier nicht. In der Hauptausstellung »The Milk of Dreams«, kuratiert von der Chilenin Cecilia Alemani, in den Giardini und den Arsenale-Werkhallen locken in diesem Jahr fantastische Werke von Surrealistinnen wie Claude Cahun, Leonora Carrington oder Jane Graverol.
Viele erlebten ihre Blütezeit im Bauhaus, mussten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten jedoch fliehen und setzten ihre Arbeit im Exil fort. So etwa Karla Grosch, die 1928 als zweite Lehrerin ans Bauhaus in Dessau kam. Ihre Lehrtätigkeit endete 1932. Sie wanderte nach Palästina aus und starb ein Jahr später in Tel Aviv. In der Hauptausstellung stößt man auf Bilder von ihrem Glastanz, den die expressionistische Tänzerin in Zusammenarbeit mit Oskar Schlemmer kreierte.
MAGIE »The Milk of Dreams« ist dem Titel eines Buches der in England geborenen mexikanischen Surrealistin Carrington entlehnt. Das Buch enthält magische Geschichten, in denen die Vorstellungskraft alles verwandelt. Die Ausstellung folgt drei Themen: Körperrepräsentation und Metamorphose, menschliche Beziehungen zur Technologie und das Verhältnis von Körper und Erde.
Zum ersten Mal in ihrer 127-jährigen Geschichte präsentiert die Biennale eine Mehrheit von Frauen und nichtbinären Künstlern – eine Auswahl, die ein bewusstes Überdenken der zentralen Stellung von Männern auch in der Kunst widerspiegelt.
Den »Goldenen Löwen« für die beste nationale Teilnahme erhielt Sonia Boyce aus Großbritannien. Boyces Projekt »Feeling Her Way« zeigt einen Chor aus afroamerikanischen Frauen, die vor Mosaiktapeten und goldene geometrische 3D-Strukturen gesetzt sind. In den Räumen des britischen Pavillons überlagern sich die Impressionen und Stimmen farbiger Sängerinnen – mal harmonisch, mal dissonant und vermitteln Gefühle von Freiheit und Verletzlichkeit.
Der israelische Pavillon lockt mit orientalischem Dekor und undefinierbaren Klängen. Die in Berlin lebende israelische Künstlerin Ilit Azoulay will mit ihrem Projekt »Queendom« die Wahrnehmung hinterfragen. Den Eingang hat Azoulay auf die Rückseite verlegt und mit orientalischen Ornamenten verziert. Königsblaue Wände und Säulen zieren den zweistöckigen Bau, die Soundinstallation verwirrt ebenso wie die orientalischen Gemälde und digitalen Reproduktionen: ein Rätsel, das mit den Sinnen der Besucher spielt.
Azoulays Queendom erwecke den Eindruck, als sei es aus einem systemischen Zusammenbruch hervorgegangen, der einem fehlerhaften Satz kultureller Codes folgte, was zu einer Reihe von Störungen in der Architektur des Pavillons führte, die nun den Raum überfluten, schreibt Shelley Harten im Katalog.
KLANG Diese Transformation ist im gesamten Pavillon zu spüren, zu hören und zu sehen, während Azoulay »ihren Orient« von Westen nach Osten neu beschreibt. Großformatige Fotomontagen sind an den Wänden des Pavillons angebracht. Eine Audioarbeit erfüllt den Veranstaltungsort mit dem Klang einer universellen Sprache, die die Besucher sonderbar anzieht.
Der israelische Pavillon fügt sich wunderbar in die Hauptausstellung »The Milk of Dreams« ein.
Das Projekt basiert auf dem verschollenen Archiv von David Storm Rice (1913–1962), einem britischen Kunsthistoriker und Archäologen österreichisch-jüdischer Herkunft, der sich auf mittelalterliche Intarsien-Metallgefäße islamischer Kunst spezialisiert hatte. Die Originalobjekte wurden im gesamten Nahen Osten hergestellt, im Tauschhandel verschenkt und in der Levante gehandelt, dann oft über Venedig nach Europa gebracht.
Durch digitales Kunsthandwerk seziert Azoulay die Details der Objekte von Storm Rice, verändert ihr Geschlecht und setzt sie in einem virtuellen Schweißprozess auf gescannten Metallplatten wieder zusammen. Diese Fotomontagen druckt sie dann großformatig auf Papier. In diesem restaurativen Akt offenbaren die wiederauflebenden Kartografien Bruchprozesse und Verschiebungen.
CODES Azoulay hat Rices Makrofotografien somit in noch kleinere Stücke gebrochen und ihre Codes, vor allem aber ihre Genres verändert. Die Künstlerin rekonstruiert und dekonstruiert mit ihrem Queendom-Projekt die Vergangenheit. Frauen wirkten bei der Herstellung dieser Objekte sicher mit, doch ihre Namen wurden in der Geschichtsschreibung nie erwähnt. Azoulay gibt ihnen einen Platz. Aus Königen werden Königinnen, ohne historische Grenzen. Damit präsentiert sich der israelische Pavillon in diesem Jahr (selbst-)kritisch und zauberhaft als nahöstlicher Raum der Möglichkeiten – und fügt sich so, ein wenig esoterisch wirkend, wunderbar in »The Milk of Dreams« ein.
Im deutschen Pavillon wurde zum x-ten Mal versucht, das Gebäude neu zu situieren, um den monumentalen Bau und dessen faschistische Architektur zu durchbrechen. Maria Eichhorn setzt sich in ihrem Projekt »Relocating a Structure« mit der Geschichte des Baus auseinander. Das Resultat ist ästhetisch nicht sehr ansprechend. So wirkt der deutsche Pavillon in diesem Jahr wie eine große Baustelle und spiegelt ironischerweise wider, wie es aktuell um den Kunstbetrieb bestellt ist.