Als 1938 die deutschen Synagogen brannten, konnten sich die nationalsozialistischen Brandstifter auf Martin Luther (1483–1546) berufen. Der Reformator hatte schon ein halbes Jahrtausend zuvor verlangt, jüdische Gotteshäuser anzuzünden und die Gläubigen aus Mitteleuropa zu vertreiben. Zwar wird ein direkter Zusammenhang zwischen Luthers Antijudaismus und dem Holocaust meist bestritten, doch drei Jahre vor dem großen Reformationsjubiläum ist Bewegung in die Diskussion gekommen. Diese dürfte durch Thomas Kaufmanns Buch Luthers Juden, das am Mittwoch erscheint, neue Nahrung erhalten.
In dem Band listet der Göttinger Kirchenhistoriker alle Äußerungen des Reformators über das Volk der Bibel auf und interpretiert sie. Selbst gut informierte Forscher dürften über manchen Befund erschrecken. Denn Kaufmann kann belegen, dass Luthers Hass durchaus mörderische Züge hat: 1535 rechtfertigt Luther die Tötung eines hessischen Juden namens Jakob aus nichtigen Gründen. Und in einer Auslegung des 109. Psalms schreibt er, nur die Unheilsverheißung des sichtbaren Leides verhindere, dass die Juden »alle auch leiblich ausgerottet sein«. Will heißen: Die Juden sollten nur deshalb am Leben bleiben, um den Christen deren Verworfenheit vor Augen zu führen.
kontakte Für Luther sind die Juden Kaufmann zufolge die »nahen Fremden«, es gibt kaum persönliche Kontakte. Die Juden hätten sich von der Verheißung abgekehrt und sich wie die Papstkirche der Werkgerechtigkeit verschrieben, argumentiert Luther. Dies aber widersprach der neuen Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gottes Gnade. »Das Judentum war für Luther prinzipiell keine legitime Möglichkeit mehr«, folgert Kaufmann.
An dieser Position hielt Luther zeitlebens fest – was sich indes wandelte, waren seine praktischen Empfehlungen. Dies markiert zugleich den »frühen« und »späten« Luther in der Judenfrage, auf den man sich in der Folgezeit berufen konnte. In seiner Schrift »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei« ruft der Reformator 1523 zur »Freundlichkeit« gegenüber dem Volk der Bibel auf, weil er an ihre Bekehrung zum Christentum glaubte. »Das entscheidende Ziel der Reform des praktischen Verhaltens gegenüber den Juden«, bilanziert Kaufmann, »bestand in der Verbesserung der Bekehrungsaussichten.«
verstocktheit Doch diese Hoffnung erfüllt sich nicht, was Luther als Beleg für die jüdische Verstocktheit nimmt und sich in zunehmender Schärfe über die Juden äußert. Höhepunkt ist die berüchtigte Schrift »Von den Juden und ihren Lügen«, erschienen 1543. Neben langen Passagen über die im Alten Testament sichtbare Messianität von Jesus, die die Juden leugneten, ist darin von Synagogenbrand, Gottesdienstverbot, Besitzentzug und Zwangsarbeit die Rede. Nachdem Luther zwei Jahrzehnte dafür warb, Juden »wie Hunde und nicht Menschen« zu behandeln, verlangt er nun, sie »wie die tollen Hunde« zu verjagen. Auch Ritualmordvorwürfe macht er sich zu eigen. Eine Umkehrung aller Werte.
Als literarische »Endlösung der Judenfrage« bezeichnet Thomas Kaufmann den Text polemisch. Auf der anderen Seite stellt er einen Zusammenhang zwischen dem Tod von Luthers Lieblingstochter Magdalena im September 1542 und der Judenschrift her, die im folgenden Januar gedruckt wird. Damit habe er die väterlichen Gefühle abtöten und seine Wut auf die Feinde Christi lenken wollen. Das wirkt entschuldigend und für einen herausragenden Theologen wie Luther zu kurz gegriffen, zumal sich die Judenkritik vergleichbar scharf auch in Texten wie »Wider die Sabbather« (1538) und »Vom Schem Hamphoras« (1543) findet.
antijudaismus Luthers Haltung gegenüber den Juden sei »für Menschen unserer Tage unverständlich, ja unerträglich«, bilanziert der Göttinger Kirchenhistoriker. Der Reformator sei mit Wucher- und Giftmordvorwürfen sowie seinen Hinweisen auf »jüdisches Blut« über den traditionellen christlichen Antijudaismus hinausgegangen.
Kaufmann spricht von einer »frühmodernen Variante des Antisemitismus« – eine fragwürdige Einschätzung. Wissenschaftler wie der Historiker Wolfgang Benz sprechen von »Antisemitismus« erst im Zusammenhang mit der Rassenlehre des 19. Jahrhunderts. Diese war Luther noch ganz fremd.
Ausführlich geht Kaufmann abschließend auf die Wirkungsgeschichte von Luthers Judenhass ein. Während etwa die Pietisten den »Judenfreund« hervorhoben, wurde der Reformator im Zuge der Stilisierung zum Nationalhelden im späten 19. Jahrhundert auch als Antisemit glorifiziert. Die NS-Führung versuchte nach Schilderung des Kirchenhistorikers, eine Kontinuität von Luther zur eigenen Rassenpolitik zu konstruieren. Nach dem Krieg nahm die evangelische Kirche Abschied von dessen Überzeugungen zum Judentum. An deren Tragweite, so Kaufmann, habe die Theologie aber weiter zu arbeiten.