Alkohol lockert bekanntlich die Zunge – diese alte Binsenweisheit bewahrheitet sich wieder einmal im Fall des Gesprächs zwischen Itamar Diskin und seinem jüngeren Bruder Boas. Und ein hausgemachter Feigenschnaps fließt reichlich an diesem Abend, an dem sie sich wie jedes Jahr zusammensetzen, wenn der Ältere von beiden, der auffallend gut aussieht, dafür aber extrem kurzsichtig ist, aus den Vereinigten Staaten einfliegt, um sich bei seiner Augenärztin, die ihn bereits seit dem Alter von fünf Jahren behandelt, einer Routineuntersuchung zu unterziehen.
»Wir reden und erzählen dann vom Untergang der Sonne bis zu ihrem Aufgang, essen und trinken – ›saufen, um genau zu sein‹, sagt Boasʼ Frau Maya –, betrinken uns still, langsam und gründlich und reden: über meine Frauen und seine Frau, über die Kinder, die ich nicht habe, über seine Tochter und seinen Sohn, über meine Mutter und seinen Vater, wie ich sie hartnäckig nenne, denn er zog Boas vor und sie mich.«
Verhandlungen Das in solchen Nächten verhandelte Verhältnis zwischen Itamar, dem Protagonisten des letzten Romans aus der Feder des im April verstorbenen israelischen Erfolgsschriftstellers Meir Shalev, und seinem Bruder stellt so etwas wie die Achse des Buches dar, um die sich noch drei weitere Beziehungskonstellationen drehen.
Eine davon ist die ihrer verstorbenen Eltern Rachel und Yechiel, die alles Mögliche war, nur nicht liebevoll. Mutter und Vater scheinen eher in Gemeinheiten, Kälte und Boshaftigkeit vereint. Sohn Itamar kam in seiner Kindheit sogar zeitweise die Rolle eines Vermittlers zu, der zwischen den zwei Etagen im elterlichen Haus, die jeder von beiden als sein Reich betrachtete, pendeln musste.
»Du wirst zwischen dem Unten und dem Oben hin- und hergehen und mir ausrichten, was sie gesagt hat, und ihr ausrichten, was ich sage«, befahl ihm der Vater, ein pedantischer Rechtsanwalt. Die Mutter zahlte es mit gleicher Münze heim. »Sag deinem Vater: Der Tag der Feme und Vergeltung wird kommen. Dreißig seltsame Todesarten plane ich für ihn.«
Affären Die zweite Beziehungsebene ist die mit Itamars Ex-Geliebter Michal. Fünf Jahre waren beide ein Paar, und das Wissen um das Scheitern ihrer Liaison schleppt der Protagonist wie eine Bleikugel am Bein mit sich herum. Sie sollte auch der Grund sein, warum er im Alter von 30 Jahren Israel den Rücken zukehrte und sich in den Vereinigten Staaten eine neue Existenz als Fitnesstrainer aufbaute. »Ich war von Michal verlassen, hatte Vater verloren und konnte Mutters Nähe nicht ertragen.«
Doch eine dritte und zugleich viel irritierendere Ebene nimmt in der Brudernacht in dem Gespräch die zentrale Rolle ein, und zwar Itamars erotische Begegnung mit einer deutlich jüngeren Frau namens Scharon, mit der er auf Initiative einer Bar-Besitzerin in Tel Aviv während eines seiner Besuche rund 20 Jahre vor besagter »Brudernacht« verkuppelt wird. Der Protagonist folgt ihr irgendwohin in die Pampa Israels und erlebt dort eine stürmische Nacht, die mehrfach aus dem Ruder läuft und ihm Momente der Hilflosigkeit beschert.
Bemerkenswert sind ebenfalls die Worte, mit denen Itamar seinem Bruder gegenüber das Wesen von Scharon skizziert. »Sie hat mich auf einmal an all das erinnert, was ihr hier in Israel habt, an eure lärmende, kumpelhafte Intensität, die einem unter die Haut geht«, lässt der Autor seinen Protagonisten sagen. »Ich konnte nicht mehr, war ihrer müde.« Ob Meir Shalev damit sein eigenes Verhältnis zu Israel auf den Punkt bringen wollte oder nicht, darüber kann man nur spekulieren.
beziehungsgeflechte Erzählʼs nicht deinem Bruder entspricht denn auch in mancherlei Hinsicht genau dem, was die Leser von Meir Shalev kennen und erwarten: eine leicht ziselierende Geschichte, gehalten in einer Sprache, die von tiefer Kenntnis der heiligen Schriften zeugt und faszinierende Beziehungsgeflechte aufzeigt, selbst wenn sich manches davon wiederholt.
So war das Thema extreme Kurzsichtigkeit bereits in dem Roman Esau von zentraler Bedeutung. In seinem letzten Buch aber hat man den Eindruck, dass die Angst vor einem Kontrollverlust, die sich einstellt, weil Scharon dem schönen Itamar die Brille entwendet, eher einer Kastrationsangst gleichkommt.
Und damit zeigen sich auch einige Defizite. Boas, der während seiner Militärzeit auf einem U-Boot gedient hat, spricht von einem Penis als einem »Periskop«, das immer wieder auffährt, wenn Frauen im Spiel sind. Das wird zwar von den Brüdern selbst als etwas peinlich wahrgenommen, aber es ist nicht die einzige Metapher, die auf Körperlichkeit und Sexualität anspielt, es wimmelt von »Marzipanhäufchen«, die an »Venushügel« erinnern, und Ähnlichem.
Weil das alles völlig unironisch gemeint ist, nervt es irgendwann. Auch fehlen die verschiedenen Deutungsebenen und Referenzen auf die Weltliteratur, die Meir Shalevs Bücher wie Ein russischer Roman oder Esau so großartig machten, kurzum, Erzählʼs nicht deinem Bruder ist nicht nur sein letzter, sondern auch sein schwächster Roman.
Meir Shalev: »Erzählʼs nicht deinem Bruder«. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Diogenes, Zürich 2023, 298 S., 25 €