Sowjetunion

Nacht der ermordeten Dichter

Erst gefeiert, dann ermordet: der jiddische Lyriker Solomon Michoels (1890–1948) Foto: imago/United Archives International

Sowjetunion

Nacht der ermordeten Dichter

Vor genau 70 Jahren ließ Stalin die jiddische Lyrik auslöschen

von Alexander Kluy  13.08.2022 22:10 Uhr

Auszeichnungen in Serie. 1939 erhielt er den Ehrentitel »Volkskünstler der UdSSR« sowie den Leninorden, im Juni 1946 schließlich den Stalinpreis. 19 Monate später war er tot, ermordet von den Schergen Josef Stalins – die Rede ist von Solomon Michoels, einem der prominentesten jüdischen Intellektuellen in der Sowjetunion.

Der Schauspieler und Regisseur, 1942 zum Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) gewählt, wurde am 12. Januar 1948 in Minsk auf direkten Befehl des Diktators hin gekidnappt und in einer Datscha des Geheimdienstes erschossen.

groteske Anschließend legte man die Leiche in eine verschneite Seitenstraße der belarussischen Hauptstadt. Es sollte wie ein Verkehrsunfall aussehen. Zur Groteske wurde der Mord endgültig, als Stalin ein Staatsbegräbnis zu Ehren Michoels’ anordnete.

Der Tod Michoels’ war kein Unfall, sondern ein antisemitischer Mord im Auftrag Stalins.

Der Trauerzug wurde von so vielen Menschen begleitet, dass der jiddische Lyriker Perez Markisch anmerkte, hier würden wohl nicht nur die lebenden Juden mitmarschieren, sondern auch sechs Millionen gequälte unschuldige Opfer, die sich eigens aus ihren Massengräbern erhoben hätten. Denn viele hatten eine Ahnung: Michoels’ Tod war kein Unfall gewesen. Vielmehr handelte es sich um den wohl offensichtlichsten Mord des Regimes, verübt aus antisemitischen Motiven.

Massenexekution Die judenfeindliche und blutrünstige stalinistische Paranoia sollte am 12. August 1952 ihren Höhepunkt erreichen, als die Dichter Itzik Feffer, Leib Kwitko und Perez Markisch, der Romancier Dovid Bergelson sowie neun weitere Intellektuelle in einer Massenexekution im Lubjanka-Gefängnis in Moskau erschossen wurden. Einige Zeit zuvor hatte Markisch einem Freund zugeraunt, Hitler habe die Juden physisch ausrotten wollen – der Georgier Stalin wolle sie geistig vernichten.

Im Juli 1951 kam mit Michail Rjumin ein noch skrupelloserer Mann an die Spitze des Ministeriums für Staatssicherheit, der als »notorischer Antisemit« beschrieben wurde und gern eigenhändig folterte. Er und sein Chef, Semjon Ignatiew, folgten den von Stalin persönlich formulierten Direktiven und Verhörfragen buchstabengetreu. Zuvor aber gab es im Frühsommer 1952 eine nicht öffentliche Gerichtsverhandlung vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofs der Sowjetunion, die einer Farce glich.

Die Exekutionen im August 1952 gehören zu den letzten Gewaltakten der stalinistischen Herrschaft. Der Diktator selbst starb am 5. März 1953. Bereits im Sommer darauf wurde der Prozess gegen die Dichter und Romanciers noch einmal durchleuchtet. Das Ergebnis: Alle Verurteilten waren unschuldig gewesen, die Beschuldigungen fabriziert. 1955 schließlich erfolgte ihre Rehabilitierung – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Rjumin wurde zwölf Tage nach Stalins Tod verhaftet und 1954 als einer der Hauptverantwortlichen standrechtlich erschossen. Erst im Jahr 1988 sollte man die wahren Hintergründe erfahren.

Feffer, Bergelson und Dovid Hofshteyn – er war der Einzige, der nicht erschossen wurde, weil er als »unheilbar« galt und seit einigen Jahren in einer psychiatrischen Klinik untergebracht war – sowie Kwitko und Markisch gehörten ungefähr derselben Generation an. Bergelson kam 1884 zur Welt, der jüngste, Feffer, 1900. Vieles verband sie. Kiew, wo sie alle 1918 lebten. Berlin, wo sich vier von ihnen nach 1921 aufhielten, Markisch war nach Paris gegangen, zog aber 1926 nach Moskau, wohin sie alle in den späten 1920er- oder frühen 1930er-Jahren zurückgekehrt waren und sich einfügten in die so­wjetische Literaturszene.

PARANOIA Schreiben auf Jiddisch und das JAK besiegelten ihr Schicksal durch den Paranoiker im Kreml. Zionistische Vaterlandsverräter oder »wurzellose Kosmopoliten«, so lauteten die Vorwürfe. Dabei war es doch ihre Aufgabe während des Krieges, überallhin Verbindungen zu jüdischen Organisationen aufzubauen, zum Jüdischen Weltkongress, zur Zionistischen Weltorganisation. So tourten 1943 Michoels und Feffer auch durch Großbritannien und die USA.

Das JAK, zur einzigen noch wahrnehmbaren Interessenvertretung der Juden in der Sowjet­union geworden, reichte ein Jahr später ein Gesuch ein – eine jüdische Sowjetrepublik einzurichten, und zwar auf der Krim. 1948 wurde das JAK zerschlagen, seine Mitglieder unter tödlichen Generalverdacht gestellt, Druckplatten wurden zerstört, jiddische Bücher aus Buchhandlungen und Bibliotheken aussortiert.


»Vaterlandsverräter« und »wurzellose Kosmopoliten« lauteten die Vorwürfe.

Darunter befanden sich auch die Bücher und Werke von Hofshteyn und Markisch, der Michoels 1948 in einem Poem als Mordopfer bezeichnet hatte. 1940 schrieb er das Langgedicht »Tsu a yidishe tentserin«: »Wirst du, meine Heimatlose, wieder deine Flügel versuchen? / Gibt es eine Straße, die deine Leiden nicht kennt?« 1964 war Markisch vertreten in Khone Shmeruks A shpigl af a stheyn, einer Anthologie, die 1964 in Tel Aviv erschien.

Poem In seinem Gedicht »De krenitse«, zu Deutsch »Der Brunnen«, schrieb Feffer poetisch. Da kämen Mädchen, holten jede Nacht Wasser mit Eimern, unter der Sonne wüchsen Tage wie Eisbären in einem großen Garten, in der Weite der Sterne würden Jungen im Kreise tanzen. Kein Wunder, dass Chava Alberstein mit den Klezmatics dieses Poem in schön biegsame Musik umhob.

Kwitko, ab 1929 einige Jahre lang zwangsweise Traktorfahrer, dessen Gedichtbände nach 1936 hohe Auflagen erzielten, schrieb 1942 in dem Poem »Stärke«: »Der Fels ist stark – / Aber Stahl wird ihn zerschlagen. / Der Stahl ist stark – / Aber Feuer wird ihn vernichten. / Die Flamme ist stark – / Aber der Fluss ertränkt sie.« Er selbst kam durch Blei um.

Melech Rawitsch erfuhr 1956 im kanadischen Exil vom Tod seines besten Freundes Markisch. Ihm widmete er die düsteren Zeilen: »Wir sind die schwermütig-düsteren Ritter, / Die Ritter vom finsteren Stern; / Wir zogen am Morgen hinaus mit Liedern / Und reiten mit Tränen jetzt heim.« Das Poem endet in Resignation: »Seht, wir zittern verbittert / Und schreien das letzte Lied zu unserm Stern. / Wer hätt’ es geglaubt, dass unser Lied der Lieder / Einst in Blut und in Tränen ertrinkt.«

Ein anderer Poet im Exil, Mendl Neugröschel in New York, fühlte sich kurz nach diesem Poem schließlich als allerletzter Hüter des letzten Hofs des jiddischen Worts. Nach der Schoa war der 12. August 1952 die zweite blutige Zäsur, das zweite Massaker an der jiddischen Dichtung.

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