Die Pringsheims und die Manns – welche Familien! Hedwig Pringsheim (1855–1942) war die Tochter der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, ehemalige Schauspielerin und Salonnière in Berlin. Katia Mann (1883–1980), ihre Tochter, war seit 1905 »Frau Thomas Mann«. Hedwig Pringsheim war seit 1878 mit dem Mathematiker, Kunstmäzen und Wagnerianer Alfred Pringsheim verheiratet.
Zwischen 1933 und 1941 schrieb Hedwig Pringsheim von München und Zürich aus 375 Briefe an ihre Tochter Katia an die jeweiligen Exilorte der Manns in der Schweiz, in Südfrankreich und den USA, Briefe von außerordentlicher literarischer Qualität. Die Briefe befanden sich jahrzehntelang in zwei Schuhschachteln, die zum Arbeitsmaterial des Thomas-Mann-Biografen Peter de Mendelssohn gehörten, der sie wohl von Katia Mann persönlich in Kilchberg erhalten hatte, und die 1998 in das Züricher Thomas-Mann-Archiv gelangten.
Pringsheim war eine kultivierte Frau, eine »femme de lettres«. Die Antworten Katia Manns fehlen – leider. Die Briefe, als mütterlicher »Nachrichtendienst« versandt, spiegeln die Katastrophe wider, die über die gesellschaftlich hoch angesehene großbürgerliche Familie Pringsheim mit dem Jahr 1933 hereinbrach. Die Pringsheims hatten jüdische Wurzeln, waren gleichwohl ausgestattet mit einem antijüdischen Dünkel.
Nationalkonservativ Bei Hedwig Pringsheim klingt es etwa so, wenn sie im November 1934 über Ludwig Börne schreibt: »Um etwas Farbe in meine Tage zu bringen, habe ich neulich … zufällig zum alten Börne gegriffen, den ich teils wenig kannte, teils vergessen hatte, und amüsiere mich recht gut mit ihm. Witzig und geistreich ist er, zudem ein Charakter und ein sehr freier Mann. Dass er eigentlich Louis Baruch heißt, ist freilich etwas störend. Aber mit einigem guten Willen kommt man darüber hinweg.«
Aus ihren Briefen lässt sich herauslesen, wie den Pringsheims nach und nach Heimat, Haus und Vermögen geraubt wurden. Die Korrespondenz verbindet auf einzigartige Weise das Familiäre und Politische. Die Nürnberger Gesetze hatten die assimilierten Pringsheims wieder zu Juden gemacht, was nichts daran änderte, dass Hedwig Hitlers Politik mit einem gewissen Verständnis gegenüberstand und es Thomas Mann schwerfiel, seine Schwiegermutter weiterhin zu besuchen. Mit der nationalkonservativen Meinung der alten Dame und ihrer »zarten Bewunderung Hitlers« wollte Mann nichts zu tun haben.
Metaphorisch Hedwig Pringsheim war eine gleichermaßen elegante wie witzige Briefschreiberin, Meisterin der Umschreibung, die in ihrer Tochter eine ebenbürtige Adressatin hatte. Als das Ehepaar Pringsheim am 9. November 1938 nachts von der Gestapo heimgesucht und beraubt wurde, beschreibt Pringsheim dies so: »Als wir bereits im Nachthemdle liebreizend ins Bett stiegen, kamen dann die 3 Mittagsgäste … und befreiten uns von allem, womit die moderne Technik uns gesegnet.« Die Gestapo nahm auch das Radio mit, was Pringsheim folgendermaßen umschrieb: »Auch radioaktiv sind wir nicht mehr, leben im Zustand primitivster Einfalt, wie weiland Adam und Eva im Paradies. Auch an der Schlange fehlt es nicht. Wir beißen halt, wie unsre Voreltern, in den sauren Apfel.«
Eine funkelnde, metaphorische Sprache, die durch ironisch-beschwichtigende Anspielungen und Verschlüsselungen besticht. Wegen der drohenden Briefzensur war Hedwig Pringsheim genötigt, ihre Briefe so abzufassen, dass man sie nicht ganz verstehen und erst recht nicht in irgendeiner Weise verräterisch deuten konnte.
1937 wurden den Pringsheims die Reisepässe entzogen, um eine vorzeitige Ausreise zusammen mit der wertvollen MajolikSammlung zu verhindern. Das Münchner »Palais Pringsheim« wurde zwangsverkauft. Ihnen blieb nichts erspart: Drangsalierungen, Rechtsbeugungen, blanker Raub, etwa der Lenbach-Gemälde der Familie, die erst in jüngster Zeit wiederaufgefunden wurden.
Meisterleistung Emigration schlossen die alten Pringsheims kategorisch aus: »Ach du Dummerl, du kannst doch nicht im Ernst wähnen, daß wir Uralten mit fast 88 und 83 Jahren uns noch, und dazu ohne Geldmittel, auf die Auswanderbeine machen können.« »Lieber in Deutschland ehrlich sterben«, beschied sie ihrer Tochter, »als in Kalifornien jämmerlich verderben.« Schließlich kam im Oktober 1939 doch noch die Rettung, dank wundersamer Unterstützung durch einen SS-Sturmbannführer – am letzten Tag und mit dem letzten Zug, an der Grenze noch grausam drangsaliert, ging es ins Züricher Exil.
Es ist eine editorische Meisterleistung des Herausgebers und Thomas-Mann-Forschers Dirk Heißerer, der die rätselhaften Vieldeutigkeiten und verschlüsselten Warnungen der Nachrichtenüberträgerin Pringsheim wie mit einem feinen Archäologenpinsel freilegt und zu deuten vermag.
Welch ein literaturwissenschaftliches Geschenk, das er mit den Briefen von Hedwig Pringsheim an Katia Mann der Öffentlichkeit übergeben hat! Der Nachwelt ist ein literarisches Kleinod erschlossen, ein »Roman in Briefen« und zugleich ein »document humain« einer denkwürdigen Zeit.
Hedwig Pringsheim: »Mein Nachrichtendienst: Briefe an Katia Mann 1933–1941«. 2 Bde. Hrsg. und kommentiert von Dirk Heißerer, Wallstein, Göttingen 2013, 1714 S., 89 €