Für Walter Benjamin ist der Vorgang des Übersetzens eine Übung, ein Vorantasten in einen anderen – fremden – kulturellen Raum, in dem es noch unendlich viel mehr zu entdecken gibt als den aktuellen Text. Übersetzer müssen sich also mit dem Vorläufigen zufriedengeben. Davon konnten die vier Autorinnen und Autoren, die sich im herbstlichen Edenkoben pünktlich zur Weinlese trafen, ein Lied singen.
Im Unterschied zu den rheinland-pfälzischen Winzern konnten sie sich nicht über Lastwagen voller Erntegut freuen. Ihre Lese widmete sich weit empfindlicheren Gewächsen als Trauben, nämlich Gedichten. Und zwar Gedichten aus einer Sprache, die kein Einziger von ihnen beherrscht – dem Hebräischen.
UNBERÜHRHEIT Diese sprachliche Unberührtheit, die im Idealfall Neugierde entfesselt, ist der Grundgedanke von »Poesie der Nachbarn« – »Dichter übersetzen Dichter«. So lautet das Motto dieses renommierten Projekts des Künstlerhauses Edenkoben unter der Leitung von Hans Thill. Die Ergebnisse der regelmäßigen Workshops erscheinen jeweils in Buchform und setzen sich mittlerweile zu einer stattlichen literarischen Landkarte zusammen: Polen, Frankreich, die Länder des Balkans, Italien – das Stimmengewirr und die Vielsprachigkeit der »Poesie der Nachbarn« nimmt Jahr für Jahr zu.
Nun also die Premiere für ein außereuropäisches Land, nämlich Israel, das freilich in vielfältiger Weise mit Europa verbunden ist, auch durch die Abgründe nach Jahrhunderten des Antisemitismus und der Schoa.
Ja, auch diese Geschichten seien bei ihrer Übersetzung eines Gedichts von Adi Wolfson zur Sprache gekommen, sagt die Lyrikerin, Übersetzerin und Essayistin Anja Utler. Der gelbe Stern, den Wolfsons Großmutter tragen musste, wird an Hohen Feiertagen ausgepackt und unter den Familienmitgliedern herumgereicht – von dieser Tradition, von der Wut und der Fassungslosigkeit angesichts der Verfolgung, vor allem aber von der Ehrfurcht für die Großmutter und von Trauer erzählt eines seiner Gedichte.
INTERLINEARÜBERSETZUNG Die Details dieser Verse seien ihr zunächst verborgen geblieben und erst im Gespräch mit Wolfson klar geworden, so Utler. Erste Grundlage aller Übersetzungen ist eine mehr oder weniger genaue Interlinearübersetzung. Was dann aber den wahren Vorstoß in den anderen fremden kulturellen Raum im Sinne Benjamins befördern soll, ist das direkte Gespräch, das Kennenlernen, der Austausch zwischen den Dichtern.
Für das Treffen mit den Israelis musste auch im zweiten Corona-Jahr die Zoom-Konferenz reichen.
Im besten Fall entstehen Freundschaften aus dieser Begegnung, weiß Mirko Bonné aus eigener Erfahrung. Er hat bereits am Workshop mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus Polen teilgenommen und ist nun zum zweiten Mal dabei, allerdings unter völlig anderen, nämlich durch Corona erschwerte Bedingungen: der gemeinsame Spaziergang durch den Pfälzer Wald, die intensive Diskussion im eichengetäfelten Gemeinschaftsraum des Künstlerhauses, von dessen Wänden einen die Schwarz-Weiß-Fotos ehemaliger Stipendiaten anschauen wie von einer Ahnengalerie? Fehlanzeige.
Für die Begegnung mit den Israelis muss auch im zweiten Covid-19-Jahr die tägliche Zoom-Konferenz reichen. Die kommunikative Anstrengung, die diese Art der Entdeckungsreise in Benjamins kulturellem Übersetzungsraum den Teilnehmern abverlangt, ist ihnen anzumerken. Beim gemeinsamen Mittag- und Abendessen herrscht mitunter ermattetes Schweigen.
Käme es zur persönlichen Begegnung, würde man nicht bloß über die Arbeit sprechen, sagt der Berliner Lyriker Steffen Popp. Zum Beispiel würde man sich darüber auseinandersetzen, ob man Gefilte Fisch mag oder nicht. Corona aber rückt die Schreibdisziplin in den Vordergrund. Yevgeniy Breyger und Maren Kames sitzen eisern konzentriert im Gemeinschaftsraum, vor ihnen zwischen den Laptops türmen sich Aktenordner mit Interlinearübersetzungen, Anmerkungen und ihren eigenen Übertragungen der Gedichte der Israelis – nicht als Übersetzung, als Nachdichtung bezeichnen sie ihre Arbeit.
Der 1989 in der Ukraine geborene Breyger kam als Kind als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland, ein Teil der Familie lebt hier, ein anderer in Israel. Er selbst hat vor Corona längere Zeit in Haifa gelebt, dann kam die Pandemie – zwei Koffer stehen noch immer in Israel.
HEBRÄISCH Er habe mehrere Anläufe unternommen, Hebräisch zu lernen, sagt Breyger: vergebens. Für seine Nachdichtung hat er intensiv zugehört, wie die Israelis ihre Texte lesen, um die Stimmung zu erfassen. Hedva Harechavi, die 1941 in Degania geborene Grande Dame der israelischen Lyrik, spricht ihre fragilen Verse naturgemäß ganz anders als Shimon Adaf seine Gedichte, die noch immer ein wenig daran erinnern, dass er früher in einer Rockband spielte.
Hedva Harechavi spricht ihre fragilen Verse ganz anders als Shimon Adaf seine Gedichte.
Natürlich spüre man die Verwurzelung der israelischen Dichter im Nahen Osten, sagt Popp, der Konflikt mit den Arabern sei ein Leitmotiv vieler Gedichte. Den vorherrschenden Ton aber machen die Deutschen in der internationalen Ausrichtung ihrer Gegenüber aus: Was ein Dichter wie Adi Wolfson über Geschlechterfragen schreibe, könnte genauso gut am Prenzlauer Berg diskutiert werden.
Das Publikum kann sich davon im Internet überzeugen, denn die Abschlusslesung als Ergebnis des Workshops soll ab dem 7. November auf YouTube gestreamt werden. Man muss also nicht erst ins schöne, aber ein wenig verwunschen abgelegene Edenkoben reisen, um in Benjamins Raum zu gelangen. Das immerhin ist eine gute Seite der Maßnahmen, die Corona mit sich bringt.
Das Buch zur »Poesie der Nachbarn – Israel« erscheint im Wunderhorn Verlag zur Leipziger Buchmesse im kommenden März.