Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):
Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.
»Kein Ostjude geht freiwillig nach Berlin. Wer in aller Welt kommt freiwillig nach Berlin? Berlin ist eine Durchgangsstation, in der man aus dringenden Gründen länger verweilt«, stellte Joseph Roth 1927 in Juden auf Wanderschaft fest. Die neue Ausstellung »Berlin Transit« im Jüdischen Museum widmet sich Berlin als Zwischenhalt vieler Juden auf dem Weg nach ... Ja, wohin eigentlich?
Der erste Raum der Ausstellung, »Nach Berlin!«, präsentiert Eindrücke von den Geschehnissen, die viele Juden in Osteuropa veranlassten, westwärts zu wandern. Bürgerkriege in Russland führten nach 1917 zu Pogromen: Hunderttausende Juden starben, eine halbe Million wurde obdachlos.
Das Trauma der Verfolgung blieb. Der Maler Issachar Ber Ryback, der 1897 in der Ukraine geboren wurde und 1921 nach Berlin kam, verarbeitete die Pogrome in zehn Aquarellen, von denen neun erhalten sind und in der Ausstellung gezeigt werden. Es sind albtraumhafte Bilder, in der Farbe von getrocknetem Blut: Russische Ikonenmalerei, gepaart mit dem Schrecken der beiden schreienden Frauen in Picassos »Guernica«, nur 20 Jahre früher.
sehen Dann kommt die Ausstellung zu dem, was das Publikum sehen will: das Scheunenviertel. In diesem Gebiet in Mitte, zwischen dem Hackeschen Markt und dem damaligen Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz) siedelten sich seit 1900 größtenteils galizische Juden an. Die Ausstellung präsentiert verschiedene Fotografien und kurze Filme aus dem Alltag im Viertel, ist aber gleichzeitig darauf bedacht, nicht das Klischee vom »Schtetl in Berlin« zu stärken, dem schon Joseph Roth heftig widersprach.
Manche Fotografien, die für Tageszeitungen entstanden sind, wollen schon fast ethnografisch sein. Bei Aufnahmen von Razzien, in denen eine Handvoll verhärmter Orthodoxer einer Überzahl Polizisten gegenübersteht, kann man, wenn man will, schon die Ereignisse kommender Jahre erahnen.
Sammlung Zahlreiche Fotos stammen aus dem Besitz von Zeev Lewin, der, 1927 geboren, im Scheunenviertel aufwuchs. Hirsch arbeitete in hebräischen Buchhandlungen – eine davon ist, wie durch Zufall, auf einem Archivbild unbekannten Ursprungs abgebildet. Den Mann, der vor der Buchhandlung steht, erkannte Zeev Lewin während der Vorbereitung der Ausstellung sofort als seinen Vater.
Der dritte Teil der Ausstellung, »Babylon«, zeigt Bücher aus dem langsam blühenden Verlagswesen der Migranten in Berlin: teils auf Hebräisch, teils auf Jiddisch, teils auf Russisch. Eines dieser jiddischen Bücher, Grenadierstraße von Fischl Schneersohn, erscheint demnächst im Wallstein-Verlag erstmals auf Deutsch.
Im grellen Kontrast steht dazu der vierte Raum. Aus dem Scheunenviertel geht es nach Charlottenburg, »Charlottengrad«, bürgerlicher Wohnort wohlhabender Migranten wie des Ölmagnaten Chaim Kahan. In hellen engen Räumen werden in Vitrinen kleine Besitzstücke der Familie Kahan gezeigt: Operngläser, silberne Schabbes-Leuchter, aber auch herrlicher Shlock wie fast schon geschmacklos aufwendig verziertes Besteck oder ein Gewürzelefant, der unter den Machern der Ausstellung zum heimlichen Maskottchen wurde.
Hören Aus dem hellen Glasraum geht es in eine abgedunkelte Zelle, mit UV-Licht bestrahlt. Der Besucher soll sich in düstere Kuhlen setzen, in denen Aufnahmen von »Migrantenstimmen« abgespielt werden. Mit weißen Hörmuscheln kann man sich die Übersetzungen der vorgelesenen Texte anhören, die auf Jiddisch oder Russisch sind. In einem Bericht für das amerikanischen Magazin Forverts aus den frühen 20er-Jahren beschreibt der Berlin-Korrespondent das jüdische Migrantendasein als »Toytentanz«, und Ilja Ehrenburg beklagt sich darüber, immer noch in Berlin zu sein.
In anderen Kuhlen wird, mit Texten von unter anderem Stefan Zweig, erstmals in der Ausstellung, der Konflikt zwischen »Westjuden« und »Ostjuden« thematisiert, für den die Geschichte des Scheunenviertels heute noch steht. Und es gibt jiddische Schlager zu hören – womit wieder die Brücke zu Zeev Lewin geschlagen ist. Dessen Vater Hirsch hatte 1932 die Plattenfirma »Semer« (hebräisch für »Gesang«) gegründet.
Der Raum »Blickwechsel« kehrt zur Malerei zurück, und auch zu Issachar Ber Ryback. Der wandte sich dem Kubismus und dem Surrealismus zu – das Bild »Alef Bet« könnte sogar fast Dada sein. Leonid Pasternak, Vater von Boris, hingegen malte sensible Porträts von jüdischen Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Max Liebermann.
antworten Was aber hat diese Glitzerwelt der Salons und Bürgerwohnungen, der Silberbestecke und Porträts mit den engen Straßen im Scheunenviertel zu tun? Die Ausstellung gibt keine eindeutige Antwort, und das ist ihr großes Verdienst. Sie stellt immer wieder unaufdringliche Bezüge her – unter dem Foto eines verkleideten Kindes aus der Familie Kahan steht, dass »›Orthodoxer‹ ein beliebtes Purim-Kostüm« ist – aber sie entwirft keine große Geschichte, keine großen Bögen.
Als »Epilog« werden Bilder aus dem alten Berlin präsentiert und aktuellen Fotos gegenübergestellt. Mithilfe des Dienstes »Foursquare« können Berlin-Flaneure mit dem Handy nach der Ausstellung Informationen zur jüdischen Geschichte bestimmter Orte abrufen. Unter der Oberfläche Berlins, so die Ausstellung, ist die Geschichte noch spürbar. Wenn man »Berlin Transit« einen Vorwurf machen kann, dann diesen: Die Ausstellung vermittelt nicht, wo die Reise für die Bewohner des Scheunenviertels und Charlottengrads endete – in Palästina, in Amerika, in Verfolgung und Tod. Vielleicht ist das der Preis für die kritische, aber sanft erstaunte Nostalgie von »Berlin Transit«.
»Berlin Transit – Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren«. Jüdisches Museum Berlin, 23. März bis 15. Juli 2012
www.jmberlin.de