Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):
Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.
Regina Spektor war gekommen, um ihre Songs zu spielen, und damit war es ihr ernst. Das Konzert am Sonntagabend im gut gefüllten Berliner Tempodrom ist das Ende einer längeren Tour, die sie durch ganz Europa geführt hat, bis nach Russland, dem Land, aus dem sie 1989 in die USA emigriert ist und das sie seitdem nicht mehr besucht hat. Die Tour scheint ein Erfolg gewesen zu sein – Spektor wirkt gut gelaunt und gelöst.
Sie beginnt, allein, mit dem Stück »Ain’t No Cover« – A-capella-Gospel, bei dem Spektor fast auf die Knie geht. Später, inzwischen hinter dem Piano, stampft sie im Takt mit den gelb bestrumpften Füßen auf. Zusammen mit ihrer Band – Schlagzeug, Cello, Keyboard und Spektor selbst am Piano – spielt sie präzis wie ein Streichquartett.
Spektor hat eine klassische Musikausbildung, und das merkt man ihren Auftritten an. Sie lässt ihren Songs nicht unbedingt viel Raum zum Atmen – es gibt keine Solos, keine improvisierten Passagen. Spektor singt und spielt, und das ist die Hauptsache. Ihrer Band gibt sie während der Songs mit den Händen Anweisungen mit einer Bestimmtheit, wie sie vor ihr James Brown hatte.
Dankeschön Ihren Ehemann Jack »Only Son« Dishel holt sie für ein Duett auf die Bühne – doch die beiden singen kein gemeinsames Liebeslied, sondern eine düstere Parabel über das Ende des Kalten Kriegs und Judenverfolgung. Denn auch, wenn Spektor nach jedem Song »Dankeschön« in das Mikrofon haucht – sie ist eine ernste Künstlerin. Ihre Musik ist voller Brüche, so lieblich sie auch beim ersten Hören wirken mag.
Auch in den Songs ihres neuen Albums What We Saw From The Cheap Seats geht es um Verlust, Traurigkeit und Ungerechtigkeit – mal versteckt hinter guter Laune, mal zelebriert wie in einem russischen Bardenlied.
Und dann, ziemlich in der Mitte des Konzerts, spielt Regina Spektor ihr vielleicht größtes Lied. »Après moi«, ein apokalyptisches, beängstigendes, episches Stück – »après moi le déluge«, nach mir die Sintflut. Zwischen den Worten schnappt Spektor laut nach Luft, als würde sie tatsächlich zu ertrinken drohen. In einer Strophe zitiert sie dabei das Gedicht »Februar« von Boris Pasternak. Sie singt es auf Russisch, und aus manchen Ecken des Publikums kommen begeisterte Jubelrufe.
Am Ende gibt es standing ovations und vier Zugaben. Dann bedankt sie sich noch einmal, lächelt, winkt kurz und geht schließlich endgültig von der Bühne. Regina Spektor war da, und sie hat ihre Songs gespielt, und mehr kann man sich eigentlich nicht wünschen.