Judaistik

Nach dem Vorbild des Freien Jüdischen Lehrhauses

»Ashkenazium« heißt eine neue Graduiertenschule in Budapest, in der Lernende und Lehrende gemeinschaftlich arbeiten

von György Polgár  22.11.2022 07:01 Uhr

Institutsgründer Michael Chighel Foto: György Polgár

»Ashkenazium« heißt eine neue Graduiertenschule in Budapest, in der Lernende und Lehrende gemeinschaftlich arbeiten

von György Polgár  22.11.2022 07:01 Uhr

Im Oktober vergangenen Jahres öffnete in Budapest eine Graduiertenschule für jüdische Studien mit dem Ziel, Studierenden den Einfluss der europäisch-jüdischen Kultur auf das gesamtjüdische Gefühlsleben zu vermitteln.

»Ashkenazium« nennt sich die neue Lehrstelle. Denn während der Jahrhunderte wurde die Bezeichnung der im mittelalterlichen Deutschland lebenden Juden, den Aschkenasim, zum Oberbegriff der kulturellen und religiösen Identität des mitteleuropäischen Judentums. Der Name soll auch auf »Gymnasium«, also Schule, hinweisen.

Herausforderungen »Viele der Herausforderungen, die wir heute in der jüdischen Gesellschaft erleben, lassen sich auf die Wurzeln des aschkenasischen Denkens, der Geschichte und der kulturellen Erfahrung zurückführen«, erklärt Philosoph Michael Chighel, der Gründer des Institutes, das organisatorisch zur Budapester jüdischen Milton-Friedman-Universität gehört.

Chighel wolle etwas Ähnliches schaffen wie das Freie Jüdische Lehrhaus, das zwischen 1920 und 1938 in Frankfurt tätig war: Lernende und Professoren bearbeiten die Materialien gemeinschaftlich und nicht im Frontalunterricht – all dies in einer akademischen und sehr offenen Art und Weise. Dabei sei es unerheblich, ob eine Person die Gebote halte oder überhaupt jüdisch sei. Der Unterricht läuft in Zehn-Tage-Modulen, die variiert werden können. Neben den registrierten »Master’s Degree«-Hörern sind auch Interessenten willkommen, die nur einen bestimmten Kurs oder Vortrag hören möchten. Bald werde dies sogar online möglich sein.

Der Lehrplan umfasst in Zwei-Jahres-Zyklen vier Bereiche: Geschichte, Rabbinistik, Intellektualismus und Literatur.

Die behandelten Themen orientieren sich an den großen Fragen, mit denen Juden heutzutage konfrontiert werden. Der Lehrplan umfasst in Zwei-Jahres-Zyklen vier Bereiche: Geschichte, Rabbinistik, Intellektualismus und Literatur. Die einzelnen Gegenstände bewegen sich auf einer breiten Palette, von Geschichtskursen wie etwa »Die Französische Revolution, Napoleon und die Juden« über die klassische Jiddische Literatur bis hin zu intellektuellen Herausforderungen, etwa der Analyse von Hannah Arendts Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.

Dozenten Es konnten die bekanntesten Dozenten der einzelnen Gebiete gewonnen werden, unter anderem Paul Franks, Professor für Philosophie an der Yale University, mit besonderer Expertise in der Philosophie Kants und jüdischem Denken. Oder Susannah Heschel, Leiterin des Lehrstuhls für Jüdische Studien am Dartmouth College. Ihre Forschung fokussiert auf die Geschichte der jüdischen und protestantischen Geistesströmungen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Nach jedem Kurs müssen die Studierenden einen Essay verfassen. Am Ende wird eine umfangreiche Diplomarbeit eingereicht.

Auf die Frage, was man mit dem erlangten Wissen anfangen kann, erwidert der 56-jährige Kanadier: »Jeder, der hier einen Master’s Degree erworben hat, wird in der Lage sein, selbst zu unterrichten, etwa in einer Jüdischen Schule. Oder wenn jemand sich um eine Stelle in einer Jüdischen Gemeinde bewirbt, dann ist ein solches Diplom ganz bestimmt von Vorteil.« Darüber erwerbe man das Wissen, wie man jüdische Texte liest und das Judentum studiert.

Genau das habe Leah Chighel bewegt, sich anzuschließen. Sie wird ab nächstem Jahr Philosophie in Israel studieren und wollte bis dahin die Zeit nutzen, um ihr Blickfeld zu erweitern. David Schroff-Spiering, ein nichtjüdischer BWL-Student aus Deutschland, nimmt als Gasthörer teil. »Ich war schon immer von der jüdischen Kultur fasziniert, denn ich habe das Gefühl, dass sie eine Kernessenz von etwas ist.« Er habe persönlichen Kontakt zum Judaismus gesucht. »Die Lektion über den österreichisch-israelischen Religionsphilosophen Martin Buber hat mein Leben nachhaltig geändert. Das hier Gelernte gibt mir Energie!«, fasst er zusammen und freut auf das Freud-Seminar im kommenden Jahr.

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