Der Satz, der einen Wendepunkt in einem Prozess bedeuten könnte, der seit Jahren weltweit aufmerksam verfolgt wird, hätte nüchterner nicht sein können. »Die Staatsanwaltschaft führt ein Ermittlungsverfahren gegen zwei Beschuldigte durch wegen des Verdachts auf Hehlerei. Das Ermittlungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen«, lautete die Stellungnahme von Oberstaatsanwalt Oliver Kuhn Mitte Juli zu bis dato geheimen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Wiesbaden, ob Anklage zu erheben ist.
Was auf den ersten Blick wie einer von vielen unbedeutenden Polizeiberichten in der Tagespresse erscheint, ist in Wirklichkeit ein vielschichtiges Drama. Hauptdarsteller sind Franz Kafka und sein literarischer Nachlassverwalter Max Brod, der Kafkas Werke veröffentlichte und ihn nach seinem Tod zu einem »Popstar« machte. Eine weitere Figur – die einzige, die noch lebt – ist Eva Hoffe, eine alte Dame in Tel Aviv, deren Mutter, Esther-Ilse Hoffe, Brods Sekretärin und, wie manche sagen, Geliebte war.
Die Gegenstände, die von den deutschen Behörden vor Kurzem beschlagnahmt wurden und jetzt durch die Staatsanwaltschaft Wiesbaden untersucht werden, sind handschriftliche Manuskripte von Max Brod, die, so der Verdacht der Behörde, aus Israel nach Deutschland geschmuggelt wurden, um sie ohne Zustimmung des israelischen Gerichts zu verkaufen.
schmuggel Zuvor hatte Ende Juni das Tel Aviver Bezirksgericht entschieden, dass der gesamte von Hoffe gehaltene Nachlass von Brod und Kafka der israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem zu übergeben sei. Es gibt unbewiesene Vermutungen, Teile des Nachlasses seien nach Deutschland geschmuggelt worden, um sie dort möglicherweise zu veräußern.
Meir Heller, der Anwalt, der die Nationalbibliothek vertritt, wurde daraufhin nach Deutschland geschickt, um herauszufinden, wer tatsächlich hinter dem angeblichen Schmuggel steckt, und um die betreffenden Dokumente zu prüfen. »Die Sache wird jetzt in Zusammenarbeit mit deutschen Stellen geprüft, um festzustellen, ob das Material zum Brod-Archiv gehört«, sagt der Direktor der Nationalbibliothek, Oren Weinberg, auf Anfrage.
Unter den Dokumenten, die in Deutschland beschlagnahmt wurden, soll sich eines der unveröffentlichten Tagebücher Brods befinden, das aufschlussreiche Details aus Kafkas Leben enthalten könnte. Diesen Fund mit unschätzbarem Wert versuchen Kafka-Forscher seit Jahren in ihre Hände zu bekommen. Doch es ist noch immer unklar, wie, wann und von wo aus die Manuskripte nach Deutschland kamen. Eine Möglichkeit ist, dass sie mit einem angeblichen Einbruch in Eva Hoffes Wohnung 2011 in Zusammenhang stehen, bei dem, wie sie erklärte, Teile des Nachlasses gestohlen worden seien. Bei der israelische Polizei ist dazu indes nichts zu erfahren.
Hintergrund Franz Kafka wurde 1883 in Prag geboren und starb 1924. Nach seinem Tod sammelte, bearbeitete und veröffentlichte sein Freund Max Brod Kafkas Werke – gegen Kafkas ausdrückliche, in seinem Testament niedergelegte Anweisung, die Manuskripte zu vernichten. Als die Nazis 1939 in Prag einmarschierten, entkam Brod zusammen mit den Handschriften nach Palästina. Als er 1968 starb, erwarb Esther Hoffe seine und Kafkas Handschriften.
Obwohl Brod in seinem letzten Willen den Wunsch äußerte, die Manuskripte sollten einem öffentlichen Archiv übergeben werden, versteigerte Hoffe einige von ihnen für viel Geld im Ausland. Etliche davon fanden ihren Weg ins Deutsche Literaturarchiv in Marbach (DLA). Den Rest, Zehntausende von Seiten, bewahrte Hoffe in zehn Schließfächern und in ihrer Wohnung auf. 2007 verstarb Esther Hoffe, den Nachlass vermachte sie ihren Töchtern, die vor israelischen Gerichten erstreiten wollten, die Handschriften verkaufen zu dürfen – vor allem nach Deutschland.
In ihrer endgültigen Entscheidung, die Ende Juni veröffentlicht wurde, übten die Richter scharfe Kritik an Eva Hoffes Verhalten während der gerichtlichen Auseinandersetzungen. »Die Art und Weise, in der der literarische Nachlass verwaltet wurde«, so die Richter, habe zu einer »empörenden Ungerechtigkeit« geführt. Auch die Versteigerung von Kafka-Handschriften in den 70er- und 80er-Jahren durch die Familie sowie ihr Vorhaben, weitere Papiere an das Marbacher Literaturarchiv zu veräußern, wurden von den Richtern harsch kritisiert.
Bedingungen Marbach ist ein guter alter »Kunde« der Familie Hoffe. 1988 verkauften die Hoffes das Manuskript von Der Prozess für 1,98 Millionen Dollar bei Sotheby’s in London. Der Käufer, ein Schweizer Handschriften-Händler, übergab die Blätter später an das Archiv in Marbach. Dieser Deal über Umwege verstieß gegen die Bedingungen von Brods Testament: Er hatte klar bestimmt, sein Nachlass solle an ein öffentliches Archiv gehen – statt ihn in einer Versteigerung an den Meistbietenden zu verkaufen –, und er hatte die israelische Nationalbibliothek als bevorzugten Empfänger genannt.
»Wir kommentieren das Urteil des israelischen Revisionsgerichts nicht«, sagte die Pressesprecherin des DLA, Alexa Hennemann, auf Anfrage und enthüllt dann doch ein wichtiges Detail: »In dem von Ihnen angesprochenen Fall des Nachlassmaterials von Brod waren wir es, die den Hinweis an die Polizei gaben, da uns die Provenienz suspekt erschien. Eine Erwerbung kam für uns nicht infrage.«
Welche Rolle das DLA in diesem letzten Fall genau spielte, wird derzeit untersucht. Sicher ist nur, dass Direktor Ulrich Raulff in der ganzen Angelegenheit eine plötzliche Kehrtwende vollzog. In einer offiziellen Erklärung gegenüber der Nachrichtenagentur dpa zur Entscheidung des israelischen Gerichts Ende Juli sagte Ulrich Raulff: »Von einer Enttäuschung Marbachs kann nicht die Rede sein, weil wir nie etwas für uns erwartet oder eigene Ansprüche angemeldet haben. Wir waren nicht Partei.«
fragen Das DLA soll nicht Partei gewesen sein? Diese Aussage muss jedem seltsam erscheinen, der den Anwalt erlebt hatte, den das Archiv zur Vertretung seiner Interessen nach Israel entsandt hatte. Beobachter konnten den Eindruck gewinnen, dass er sicherstellen sollte, dass Eva Hoffe das Recht zum Verkauf der Handschriften in Deutschland zugesprochen bekam. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk Anfang Juli sprach Ulrich Raulff zum ersten Mal das Wort »kooperieren« im Zusammenhang mit der Frage, was mit den Handschriften Kafkas in Zukunft geschehen soll, aus.
Es ist zweifellos ein positives Signal von Raulff, Israel jetzt eine Zusammenarbeit anzubieten – nachdem das Gericht seine Entscheidung gefällt hat. Nichtsdestoweniger steht dies im Gegensatz zu den vergangenen Jahren, als sein Anwalt keine Mühe scheute, die Richter davon zu überzeugen, dass die israelische Nationalbibliothek als Erbe ungeeignet sei.
Jetzt, nachdem sich das israelische Gericht die Überzeugung der Nationalbibliothek zu eigen gemacht hat, dass Brod seinen Nachlass keinesfalls in Deutschland sehen wollte, steckt das DLA in einem Dilemma. »Max Brod hätte es kategorisch abgelehnt, dass ein in Deutschland befindliches Archiv seinen literarischen Nachlass erhält«, schrieben die Richter und fügten hinzu, dass Brods Bruder, dessen Frau und Tochter ebenso wie die drei Schwestern Kafkas von den Nazis ermordet wurden.
»Verfluchte Nation« heißt es in einem überlieferten Brief von Brod über Deutschland. Mit diesem Land habe er eine »ganz besondere Rechnung« zu begleichen.