Vor einigen Jahren ließ ich Studenten in einem Seminar über Nationalismustheorien die Thesen wichtiger Forschungsansätze visualisieren, sprich: auf einem Poster in Stichworten zusammenfassen und mit Grafiken darstellen. Weil sie das gut machten, schickte ich den auf diese Weise interpretierten Kollegen die Ergebnisse – allerdings glaubte ich nicht wirklich, dass sich jemand dafür interessieren würde. Ein paar Wochen später bekam ich überraschend doch Antwort: von Eric J. Hobsbawm. Der weltweit renommierte Sozialhistoriker war begeistert. Mehr noch: Er fand, dass die Studierenden ihn eigentlich besser zusammengefasst hätten, als er das selbst je gekonnt hätte.
Dieses charmante Understatement war beeindruckend. Es verstärkte den Eindruck, dass Eric Hobsbawm trotz seiner Berühmtheit sich selbst nicht zu wichtig nahm, sondern interessiert, engagiert und stets offen für Neues die Welt erkundete. Sein Erkundungsgebiet war dabei als Historiker die Vergangenheit. Denn sie verleihe, wie er einmal schrieb, den »Heiligenschein der Legitimität«. Damit war Geschichtsforschung aber für ihn nie langweiliger, aktenverstaubter Selbstzweck. Sie war politisch, Teil gegenwartsbezogener Auseinandersetzungen. Und die führte Hobsbawm gern und intensiv: Universitär in London beheimatet, hatte er Gastprofessuren an so ziemlich allen Universitäten inne, die weltweit als besonders renommiert gelten.
Extreme Sein Hauptinteresse galt den historischen Umbrüchen, den materiellen wie den weltanschaulichen: Revolutionen, Imperien, Extreme. Und eben dem Nationalismus, den er auf »erfundene Traditionen« zurückführte. In den 80er-Jahren ein bahnbrechender Gedanke, der nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch die Sozialwissenschaften revolutionierte: Es gibt realhistorische Entwicklungen, etwa bei der Nationwerdung, die auf sozial erfundenen Traditionen und Mythen aufbauen, die naturalisiert oder anthropologisiert, sprich: für natürlich und damit unverhandelbar erklärt werden.
Dass der Nationalismus, der völkische zumal, sich diese Mythen in aggressiver Weise zu eigen machte, wusste Hobsbawm nicht nur aus den Akten: 1917 in Alexandria geboren, wuchs er in der Zwischenkriegszeit in Wien auf. Seine Eltern starben früh, er ging zu Verwandten nach Berlin, verließ aber Deutschland – als Jude und Marxist – noch vor der Machtergreifung der Nazis und ging nach London. Für Hobsbawm zunächst ein Rückschritt: Eigentlich hatte er als aktiver Kommunist in Berlin gegen die Nazis kämpfen wollen, seine Ersatzeltern bewogen ihn aber dazu, sich dem Studium zu widmen.
Integrität Sein marxistisches Engagement machte ihn jedoch nicht blind für den stalinistischen oder maoistischen Terror, er wurde zwar noch in den 30er-Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei in Großbritannien, nie aber Parteigänger einer dumpf-marxistischen Weltanschauung, wie sie im Westeuropa der Nachkriegszeit unter Intellektuellen weit verbreitet war.
Überhaupt unterschied sich Hobsbawm von jenen wesentlich durch zweierlei: Er wechselte seine Weltanschauung nicht wie eine Hose und konnte gerade deshalb seine intellektuelle Integrität bewahren. Hobsbawm hat sich nie lächerlich gemacht, weil er von der Richtigkeit, nicht aber von der Unfehlbarkeit seiner Grundhaltungen überzeugt war. Genau deshalb berichten wohl viele gerade jüngere Kollegen mit Blick auf Hobsbawm von dem Gefühl, er sei in ihrer Selbstwahrnehmung schon immer dagewesen und werde auch irgendwie immer da sein. Anfang dieser Woche ist Eric Hobsbawm im Alter von 95 Jahren in London an einer Lungenentzündung gestorben. Er wird bleiben und uns weiter begleiten, auch wenn er jetzt schon schmerzlich fehlt.
Der Autor ist Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen.