Die Pointe kam überraschend: Damit, dass Todd Phillips’ Film Joker den Goldenen Löwen des 76. Filmfestivals von Venedig gewinnen könnte, hatte niemand gerechnet.
Zwar war die Neuinterpretation des Superhelden-Genres durch den Hangover-Regisseur am Lido ausgesprochen gut angekommen; der Film, der mit dem jüdischen Schauspieler Joaquin Phoenix in der Titelrolle die Herkunftsgeschichte des nihilistischen Batman-Antagonisten mit dem Clownsgesicht erzählt, löste stürmische und mehr als zehn Minuten langen Beifall vor Ort sowie entsprechend heftige Auseinandersetzungen in den sozialen Medien aus.
Attentäter Den einen war er eine Offenbarung, der in seiner Geschichte über einen unglücklichen weißen jungen Mann, der zum bejubelten Attentäter wird, die unübersichtlichen Strömungen der Gegenwart auf den Punkt bringt. Den anderen galt er als Symptom genau dieser Unübersichtlichkeit: als Film, der mit seinem ressentiment-geladenen Helden jene »einsamen Wölfe« feiert, die in Verblendung gegen wie auch immer definierte »Andere« ausschlagen.
Obwohl genau dieser Spannungsbogen aus Joker den vielleicht meistdiskutierten Film des Festivals machte, schlug die Entscheidung der Jury unter dem Vorsitz der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel als große Schlussüberraschung ein.
Superheld Hat nun das Superhelden-Genre auch noch die letzte Domäne des Arthouse-Kinos, die europäischen Filmfestivals erobert? Wenn diese 76. Ausgabe des ältesten Filmfestivals der Welt etwas zeigte, dann, dass Filme eben stets mehr sind als das, was man vorher über sie zu wissen glaubt. So gehört Joker bei genauerer Betrachtung genauso zweifelsfrei zum Arthouse-Genre wie Taxi Driver und King of Comedy von Martin Scorsese, die zwei Filme, auf die Todd Phillips’ Film am deutlichsten Bezug nimmt.
Phillips gelingt es, den Superheldenstoff von all seinen pubertären Genre-Kaprizen zu befreien und auf diese Weise sichtbar zu machen, was er über unsere Gegenwart erzählt. Der Film handle mehr von der Bösartigkeit eines Systems als eines Einzelnen, so begründete auch Lucrecia Martel die Wahl der Jury.
Staunen Das Staunen über die Entscheidung für Joker hatte zudem den Nebeneffekt, dass eine andere, viel umstrittenere, von ihr in den Schatten gestellt wurde: Ging doch der Grand Prix, gewissermaßen die Silbermedaille des Festivals, an J’accuse von Roman Polanski und damit an jenen Wettbewerbsbeitrag, der schon seit der Programmankündigung auch im Zuge der #MeToo-Bewegung für Konfliktstoff sorgte. Die Preisverleihung bildete hier live ein Stück Gegenwartsdiskurs ab – im Widerstreit um die Frage, wie man mit einer Figur wie Polanski umgeht, der sich vor 42 Jahren der Vergewaltigung einer Minderjährigen schuldig machte und noch immer der Strafverfolgung in den USA entzieht.
Sein Film über die Dreyfus-Affäre kommt als effektvoll erzählte und wichtige Geschichtslektion daher und wurde ausgesprochen positiv aufgenommen. Die Auszeichnung reflektierte beispielhaft das Ringen darum, Person und Werk zu trennen, Letzteres anzuerkennen, ohne die Tat des Mannes zu rechtfertigen.
Dreyfus-Affäre Letztlich erkannte die Jury aber auch, dass sie Polanski bei der Preisvergabe nicht ignorieren konnte – schließlich gehörte J’accuse zu den besten Werken in Venedig: Langsam und konzentriert erzählt Polanski von der Dreyfus-Affäre in den 1890er-Jahren und offenbart ein System voller Judenhass, Lügen und Vertuschung. Die Jury habe nur den Film selbst bewertet, betonte Präsidentin Martel. bsh